7. August 2025
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Ajaccio

Ajaccio – Hauptstadt Korsikas, Geburtsort Napoleons I. und Scharnier zwischen lateinischer und französischer Welt – verdankt seine heutige Gestalt einer fast 3 000-jährigen Schichtung von Siedlungsplätzen, Machtinteressen und Wirtschaftszyklen. Ihre Geschichte reicht von bronzezeitlichen Küstenlagern über pi­sani­sche Salinen, die genuesische Zitadelle und die napoleonische Mythos-Maschinerie bis zur Gegenwart als mediterrane Dienstleistungsmetropole. Der folgende Deep-Dive rekonstruiert die wichtigsten Etappen dieser Entwicklung und ordnet sie jeweils in den über­greifen­den korsischen Kontext ein.

  1. Steinäxte am Golf – prähistorische und antike Keimzellen
    Die ältesten Spuren menschlicher Präsenz finden Archäologen in den Untiefen von Capo di Feno: bearbeitete Feuersteine, Keramikscherben und Herdstellen datieren auf das späte 3. Jt. v. Chr. Funde von „lumachelle“-Perlen belegen Kontakte zu Tyrrhenischen Inseln und dem Festland. In römischer Zeit (ab 259 v. Chr.) erschienen an der Nordostseite des Golfs mehrere villae rusticae; sie bewirtschafteten Wein- und Ölterrassen für den Export nach Massilia. Das Itinerarium Antonini erwähnt einen Ankerplatz „Adiacium“ – wahrscheinlich Vorläufer des späteren Ajaccio – samt Heiligtum für Apollo Granicus [1].

  2. Frühmittelalter: Pest, Piraten, Pisaner
    Nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs entvölkerten sich die Küsten Korsikas. Byzantiner und Langobarden hinterließen kaum bauliche Spuren, dafür Berichte über Sarazenenüberfälle (8.–10. Jh.), die noch Jahrhunderte später den Küstenbewohnern Angst einjagten. Erst die Investitur des toskanischen Markgrafen Bonifatius (1052) brachte eine Phase relativer Stabilität; Pisa erhielt 1092 von Urban II. das Korsika-Patronat. Die Pisaner legten südlich des Lagunensystems eine Stadt mit orthogonalem Straßennetz an (heute „Vieux Ajaccio“, Quartier Saint-Jean). Daneben entstanden Salzgärten, deren Erträge in den toskanischen Handel einspeisten. Malaria-Schübe – die Sümpfe gaben dichte Mückenschwärme frei – zwangen die Bewohner jedoch zu saisonaler Flucht in die Hügelsiedlungen Villanova und Sarrola-Carcopino [2].

  3. 1492: Die genuesische Neugründung – Ajaccio rückt auf die Halbinsel
    Die Seeschlacht von Meloria (1284) beraubte Pisa seiner Vorherrschaft; Genua konsolidierte ihren Einfluss, sah aber das alte, sumpfige Ajaccio als unhaltbar an. 1492 veranlasste der Bankier-Adel der Republik eine komplette Verlegung: Auf einer felsigen Landzunge am Südrand des Golfs wurde in nur zehn Jahren eine fünfeckige Zitadelle (heute „Citadelle Miollis“) mit sternförmigem Bastionengürtel, Hafenkai und schachbrettartig geplanten Wohnblöcken hochgezogen. Parallel ordnete Genua eine „colonia“ von rund 200 ligurischen Familien an – darunter die später berühmte Familie Buonaparte. Dialektologisch prägten sie das bis heute hörbare „Aiaccinu“, das ligurische Konsonanten-Cluster (-sc-) bewahrt, zugleich aber korsische Vokalismen aufweist [3].

  4. Salz, Korallen, Kastanien: Wirtschaftsboom und soziale Spannungen (16.–18. Jh.)
    Die Zitadelle schützte nicht nur vor Berberpiraten, sondern auch vor innerkorsischen Clan-Fehden. Ajaccio wurde Umschlagplatz für:
    • Salz aus den Lagunen von Parata und Campo dell’Oro.
    • Rote Edelkorallen („oro rosso“) aus den Klippen der Sanguinaires-Inseln.
    • Getreide, Öl und Kastanienmehl aus den Tälern Gravona und Prunelli.

Gleichzeitig wuchsen soziale Ungleichheiten: Die genuesischen „maestri di casa“ kontrollierten Zoll und Grundbesitz, während korsische Landbevölkerung als Taglöhner auf den Kais stand. Die Spannungen entluden sich 1729 im großen Inselaufstand: Ajaccio blieb zunächst loyal zu Genua, wurde aber 1732 von korsischen Rebellen unter Giafferi belagert und geplündert. Erst deutsche Hilfstruppen für die Republik stellten die Ordnung wieder her.

  1. 1768/69: Von Genua an Frankreich – der Wendepunkt vor Napoleons Geburt
    Der Versailler Vertrag zwischen Genua und Ludwig XV. besiegelte 1768 die französische Übernahme Korsikas. In Ajaccio stationierten die Bourbonen zwei Bataillone des Régiment Royal-La Marck, renovierten die Zitadelle und bauten eine neue Militärkirche (San Ruoco). 1769 – fünf Monate nach der französischen End­schlacht bei Ponte-Novu – erblickte Napoleone Buonaparte im „Casa Buonaparte“ (rue Saint-Charles) das Licht der Welt. Die Familie verkörperte den Übergang: formal genuesischer Adel, praktisch aber Profiteure des neuen Regimes. Napoleons Vater Carlo Maria erhielt 1771 einen Posten im Conseil Supérieur de Corse. Die Stadt war damals nur rund 7 000 Einwohner stark, doch der zukünftige Kaiser sollte ihr Narrativ dauerhaft dominieren [4].

  2. Revolution, Empire und das „Aiacciu napoléonien“
    Während der Französischen Revolution schwenkte Ajaccio anfangs auf jakobinischen Kurs, wurde aber 1793 von royalistischen Offizieren und britischen Alliierten besetzt. Die Buonapartes flohen nach Toulon. Erst 1796, als Napoléon Italien gewann, kehrten sie triumphal zurück. Unter dem Empire erhielt Ajaccio:
    • den Status einer „préfecture“ (1800) für das neu gebildete Département Liamone,
    • ein Militärhospital,
    • den Jardin des Milelli, ein Mustergut für Maulbeer- und Olivenkulturen,
    • großzügige Esplanaden (Cours Napoléon, Cours Grandval) nach dem Vorbild toskanischer „lungomare“.

Die napoleonische Ära verknüpfte sich zudem mit symbolpolitischen Akten: 1802 verfügte der Erste Konsul, dass sein Geburtshaus zum Nationalgut erklärt und später als Museum ausgebaut werde – eine Anfangs­zündung für den Ajacciner Geschichtstourismus.

    1. Jahrhundert: Kolonialfenster nach Afrika
      Nach 1830 (Eroberung Algeriens) wurde Ajaccio Zwischenstopp für Truppenschiffe, Postdampfer und Agrarkolonisten. Die französische Regierung investierte in:
      • Hafenmolen und Schlepprinnen (1842 ff.),
      • ein Leprakrankenhaus auf den Sanguinaires (1850),
      • eine Eisenstraße („Route Impériale 193“) nach Bastia,
      • das „Palais Fesch“ (1852), gestiftet von Kardinal Joseph Fesch, Napoleons Onkel: Es beherbergte eine Kunstschule, um korsische Maler für Orientaufträge auszubilden.

Zwischen 1850 und 1880 stieg die Einwohnerzahl von 9 800 auf 18 500. Weine und Zitrusfrüchte aus dem Bassin Gravona fanden in Marseille und Algier reißenden Absatz; eine Phylloxera-Epidemie (1890) stoppte den Boom, führte aber zum Umstieg auf Rebsorten wie Niellucciu und Vermentinu, die heute das AOP-Profil „Ajaccio“ ausmachen [5].

  1. Fin de Siècle: Sanatorium und Belle-Époque-Resort
    Das milde Winterklima lockte Lungensanatorien und Hotels. Die Compagnie des Chemins de fer de la Corse eröffnete 1888 eine Schmalspurstrecke Ajaccio–Bocognano; bürgerliche Kurgäste aus Lyon und Genf flanierten nun auf dem „Boulevard Lantivy“ und nächtigten im Grand Hôtel Continental (1896). Der Stadtrat nutzte diese Welle, um Abwässerkanäle und elektrische Straßenbeleuchtung einzuführen – ein Modernitätsschub, der Ajaccio vom typischen korsischen Kleinstadtleben abhob.

  2. Weltkriege und Vichy-Zwielicht
    Im Ersten Weltkrieg fielen 1 247 Ajacciner Soldaten; ihr Mahnmal steht vor der Kathedrale. Viel härter traf die Stadt jedoch der Zweite Weltkrieg. Nach dem Waffenstillstand von 1940 wurde Ajaccio Teil der Vichy-Verwaltung; Jüdinnen und Juden aus Nordafrika erhielten Transitvisa, während sich in den Hügeln erste Résistance-Gruppen formierten. Italienische Truppen besetzten die Stadt im November 1942; sie richteten im Lycée Fesch ein Gefangenenlager ein. Am 9. September 1943, vier Tage nach dem italienischen Waffenstillstand, erzwang die korsische Résistance – unterstützt von Senegalschützen des 1er Bataillon de Choc – die Kapitulation der Besatzer. Ajaccio war damit die erste befreite französische Stadt des Krieges; Charles de Gaulle verlieh ihr später das Kreuz der Befreiung [6].

  3. Fünf Nachkriegsdekaden: Vom Verwaltungszentrum zur Dienstleistungsdrehscheibe
    1946 schluckte Ajaccio das Département Liamone; 1975 wurde es Hauptstadt der neuen Collectivité Territoriale de Corse-du-Sud. Drei Transformatoren prägten die Stadt:

a) Infrastruktur
• Flughafen Campo dell’Oro (1952, später Napoléon-Bonaparte-Airport) mit Direktflügen nach Paris, Genf, Rom.
• Verbreiterung des Cours Napoléon zur vierstreifigen Stadteinfahrt (1972).
• Ausbau des Hafens für Autofähren der SNCM und Corsica Ferries (1980 ff.).

b) Urbanisierung
• Großsiedlungen „Les Cannes“ und „Les Salines“ (1965–75) zur Aufnahme von Binnen-Migranten.
• Gentrifizierung der Altstadt: ehemalige Garnisonsgebäude wandelten sich zu Restaurants, Galerien und Co-Working-Spaces.

c) Politische Spannungen
• Die Unabhängigkeitsbewegung FLNC verübte seit 1976 mehrere Anschläge auf Verwaltungsgebäude.
• 1996 Busbahnhof-Attentat, 2001 Ermordung des Präfekten Erignac in Ajaccio – einschneidende Traumata, denen die Stadt mit Sicherheitskameras und Dialoginitiativen begegnete.

  1. Gegenwart: „Ville impériale“ zwischen Kulturerbe und Smart City
    Ajaccio zählt heute gut 72 000 Einwohner (INSEE 2023) und positioniert sich als:
    • Napoleonic Heritage Hub – jährlich 350 000 Besucher im Maison Bonaparte, 200 000 im Musée Fesch; das Festival „Napoléon en Capitale“ (August) kombiniert Reenactments und Digital-Mapping.
    • Kultur- und Uni-Standort – Satellitencampus der Universität Korsika (Meereswissenschaften, KI-Tourismus).
    • Smart-City-Labor – 2021 Einführung eines App-gestützten, dezentralen Müll-Pneumatiksystems in der Citadelle.
    • Nachhaltiger Hafen – 2024 soll „AJAccio Oxygène“ Landstrom für Kreuzfahrtschiffe liefern und 1 500 t CO₂ einsparen.

  2. Ikonografie und Erinnerungskultur
    Fast jede Straße verweist auf Napoleon: Cours, Place, Lycée, Flughafen. Doch Ajaccio erzählt mehr:
    • Kathedrale Santa Maria Assunta (1593) – Taufkirche Napoleons, mit korallroter Stuckfassade.
    • Chapelle des Grecs – byzantinisches Kuppelkirchlein, das an griechische Flüchtlinge des 18. Jh. erinnert.
    • Marché d‘Ajaccio – agro-pastorale Produkte (Prisuttu-Schinken, Brocciu, Zitronatsnarangen), Fortsetzung eines Wochenmarkts aus genuesischer Zeit.
    • Les Îles Sanguinaires – Natura-2000-Zone mit Genuesenturm (Torra di Castelluchju, 1608); Sonnenuntergänge färben die Porphyrfelsen blutrot, weshalb die Römer vom „Insula sanguinis“ sprachen.

  3. Ajaccio als Spiegel korsischer Ambivalenz
    Ajaccio ist keine einlinige „Kaiser­ge­burts­stadt“, sondern ein Palimpsest: Pisa legte das Raster, Genua die Zitadelle, Frankreich die Avenue, Napoleon die Erzählung, der Kolonialhandel die Docks, Vichy das Trauma, der Tourismus die Skyline aus Hotels und Yachten. Jede Phase hinterließ Schichten, die sich heute in Straßennamen, Dialekten, Essensdüften und politischen Debatten überschneiden. Gerade diese Verdichtung macht Ajaccio zu einem Brennglas korsischer Identität: modern und archaisch, französisch und doch eigen, vom Meer offen und vom Bergland begrenzt. Wer auf der Place Foch zwischen Palmen und Kolonnaden sitzt, hört in den Pausen des Stadt­lärms vielleicht das Echo der Marschtruppen, der Hafenarbeiter und der revolutionären Studenten, die hier seit Jahrhunderten um Zugehörigkeit ringen – ein fortlaufender Dialog, der Ajaccio in Bewegung hält.

Quellen (Auswahl)
[1] Jean-Laurent Manon: Ajaccio antique et médiéval – Recherches archéologiques 1970–2015, Ausonius Éditions, Bordeaux 2018.
[2] Antoine-Marie Graziani: La Corse génoise – Histoire d’une domination (1284-1768), Tallandier, Paris 2015.
[3] Lucien Faggion / Francesco Zurlo (Hg.): Genoa and Corsica in the Renaissance World, Brepols, Turnhout 2021.
[4] Thierry Lentz: Napoléon et Ajaccio – Naissance d’un mythe, Fayard, Paris 2019.
[5] Pierre Flori: Vins et vignobles de l’AOP Ajaccio, Revue de viticulture méditerranéenne 42/2 (2017), S. 66–89.
[6] Jean-Marie Arrighi: La Corse dans la Seconde Guerre mondiale, Albiana, Ajaccio 2020, Kap. 4 („La Libération d’Ajaccio, septembre 1943“).