Eine Hochgebirgsinsel im Mittelmeer
Kaum eine europäische Destination bietet so abrupte Übergänge zwischen Meereshöhe und alpinem Gelände wie Korsika: Über 120 Gipfel ragen höher als 2 000 m, doch nirgends ist man weiter als 40 km von einer Küste entfernt. Dieses Relief aus Granit, Glimmerschiefer und Kalk hat ein Wegenetz hervorgebracht, das uralte Transhumanzpfade, genuesische Postrouten, Partisanensteige und moderne Weitwanderwege verbindet. Der folgende Beitrag stellt die wichtigsten Routen vor – von der legendären Gratüberschreitung GR 20 bis hin zu stillen Dünenpfaden – und verknüpft Praxiswissen mit Forschungsdaten und Verwaltungsquellen.
- Der GR 20 – „Fra li monti“ in 16 Etappen
Steckbrief
• Länge: 178–183 km (variiert mit Umleitungen)
• Auf-/Abstieg: > 12 000 m kumuliert
• Etappen: 16 (Nord–Süd) oder 15 (Süd–Nord)
• Saison: Mitte Juni–Ende September; südlicher Teil oft schon ab Mai begehbar- Historie
Der Parc naturel régional de Corse (PNRC) legte den GR 20 1972 offiziell an, indem er bestehende Hirten- und Zollpfade miteinander verband. Die Streckenführung folgte bewusst den granitischen Hauptkämmen, um Sommergewitter und Malaria-verseuchte Täler zu umgehen – eine Rückbesinnung auf antike Transhumanzrouten („Tra mare e monti“). Seit 1994 läuft eine systematische Erosionserhebung: 27 % der Tragwege gelten mittlerweile als „hoch beansprucht“[1], weshalb Umleitungen – etwa um den Cirque de la Solitude (Neutracé 2022) – notwendig wurden. - Nord vs. Süd
Nordteil (Calenzana–Vizzavona) = technischer: luftige Grate, Blockfelder, Stahlseilpassagen. Südteil (Vizzavona–Conca) = rollender Granit, mehr Wald und Pozzi-Hochweiden. Laut einer Studie der Uni Corte beenden nur 62 % der Aspiranten den gesamten GR 20; Abbruchquote im Norden doppelt so hoch wie im Süden[2]. - Logistik & Buchung
Refuges (PNRC) und sechs privat geführte Bergerien bieten einfache Schlafplätze. Seit 2020 läuft ein Online-Reservierungssystem (reserves.parc-corse.fr); in der Hochsaison werden maximal 120 Betten pro Refugium belegt, um Übernutzung zu begrenzen. Wildzelt = erlaubt, sofern man im Frühsommer vor Sonnenuntergang im Radius 1 km um eine Hütte steht und offenes Feuer vermeidet (Décret préfectoral n°2023-489). - Sicherheit
Die Gendarmerie de Haute Montagne (PGHM) registrierte 148 Rettungseinsätze 2023, Hauptursachen: Dehydrierung (41 %), Knöchelfrakturen (23 %), Gewitterpanik (13 %). Empfehlung: Wasserfilter oder Micropur-Tabletten, 3 l pro Etappe, Verzicht auf Metallstöcke in Gewitterzonen oberhalb von 2 000 m. - Ökologische Effekte
Aktuelle Lidar-Analysen zeigen bis zu 18 cm Substratverlust/Jahr in sandigen Segmenten wie Bocca a e Porte. Der PNRC testet Holztreppen und Kokos-Matten zur Stabilisierung[3].
- „Mare e Mare“ und „Mare e Monti“ – Querungen für Genießer
Idee: Man startet an einem Meer, überquert das Mittelgebirge und erreicht ein anderes Küstengewässer – kulturell oft ein Ortswechsel von ligurisch anmutenden Hafenstädtchen zu francoprovenzalisch geprägten Bergdörfern.- Mare e Mare Nord (Cargèse – Moriani)
• Länge: 150 km, 10 Etappen
• Höchster Punkt: Col de Vergio, 1 477 m
Highlights: Kastaniengrotten im Filosorma, Genueser Steinbrücken im Niolu, Thermalquellen von Calacuccia. Der Weg nutzt teilweise römische „mulatterie“ mit Kopfsteinpflaster. Eignung: ambitionierte Familien; Unterkünfte in Gîtes d’étape. - Mare e Mare Centre (Porticcio – Ghisonaccia)
• 77 km, 5 Etappen; Profil moderat (0–1 100 m).
Besonderheit: Durchquert den Fluss Taravo; Teilstrecke als Natura-2000-Zone „Forêts de Saint-Antoine“, Brutgebiet für Mittelmeer-Steinadler. Frühjahr beliebteste Saison, Kastanienblüte im Juni. - Mare e Mare Sud (Porto-Vecchio – Propriano)
• 85 km, 5–6 Etappen.
Höhepunkt: Gebirgskamm um den Monte Alcudina (2 134 m). Kultureller Akzent: prähistorisches Ensemble Cucuruzzu-Capula (Menhire und Torre-Zyklopenmauern). Wegen Waldbrandgefahr häufige Tagessperrungen (Juli/August) – Status über App „ALERT’Incendie“. - Mare e Monti Nord (Calenzana – Cargèse)
• 137 km, 10 Etappen; Orange Markierung.
Kreuzt die UNESCO-Biosphäre Scandola: Abschnitte können aus Naturschutzgründen nur morgens bis 11 Uhr begangen werden (Brützeit Klippenvogel). Hot Spot für Trailrunner; Teil der Ultra-Trail di Corsica. - „Tra Mare e Monti Sud“
• 55 km, 4 Etappen (Porto-Pollo – Porticcio).
Routenverlauf entlang Oliven-Terrassen und Macchia-Duftpfaden. Sehr familienfreundlich, da Obergrenze 650 m Höhe.
- Küstenwege – Wandern mit Salz in der Luft
- Sentier des Douaniers (Cap Corse)
• 26 km, 2 Tagesabschnitte: Macinaggio → Barcaggio → Centuri.
Erbaut 1794, um Schmuggler zu kontrollieren. Heute Teil des Grand Site Cap Corse. Größtes Handicap: Wasserknappheit; Rangers deponieren 100-l-Fässer an Punta Agnello (Mai–Sept), dennoch mind. 2 l Eigenvorrat. - Grand Sud Littoral (Porto-Vecchio – Bonifacio)
• 100 km, 6 Etappen; kaum Höhenmeter.
Unmarkiert, doch GPS-Tracks auf geoportail.gouv.fr. Strand + Kalkfelsen + Lagunen. Biwakieren nur außerhalb der Dünen (Fragilité des embryonären Strandwalles)[4]. - Sentier des Crêtes (Ajaccio)
Halbtagesklassiker (8 km) von Parata-Bus-Endstation zur Stadtmitte. Zwergpalmen-Habitat und Blick auf die Îles Sanguinaires. Interpretationstafeln zweisprachig (Fr/Korsisch).
- Tagesklassiker im Hochgebirge
- Lac de Melo & Lac de Capitello (Restonica-Tal)
Ab Corte 45 min Fahrstraße; Zustieg 1 h 30 min. Bis Juni oft Schneefelder; Kapazitätslimit 600 Personen/Tag (Arrêté municipal 2021). - Trou de la Bombe (Compuleddu) – Bavella
Rundweg 2 h. Familiärer Einstieg in die Aiguilles de Bavella. PGHM meldet jährlich 20 Verirrungen; GPS hilfreich, da Maquis Wegmarken verdeckt. - Monte Cinto Normalroute
Start: Haut-Asco, 1 420 m. Auf-/Abstieg 1 300 m, 7–9 h. Helm empfohlen (Blockschlag). Permafrostreste in Nordrinne bis Juli, laut CNRS-Glaziologen nur noch ca. 0,8 ha Eis (Rückgang 60 % seit 1990)[5].
- Historische und thematische Pfade
- „Chemins de la Résistance“ (Asco – Niolu)
17 km, signalisiert mit roten Schützenhut-Piktogrammen. QR-Code-Stationen liefern Oral-History-Interviews zum Maquis-Widerstand von 1943. - „Strada di l’Artigiani“ (Balagne)
Zwar primär Auto-Route, doch Dorf-Loops (2–4 km) führen in Ateliers für Messer, Filigran-Schmuck, Zitronenessenzen. Kombinierbar mit Mare e Monti Nord. - „Chemin de l’eau“ (Vizzavona)
Lehrpfad zu historischen Wassermühlen & Tropfsteinquellen, Teil der EU-Initiative „Life-Eau-Corsica“. Lässt verstehen, warum die Insel trotz Gebirgsreichtum im Sommer Wasserstress hat.
- Organisation & Hilfsmittel
- Karten & Apps
• IGN TOP25 Serie 4250–4281 (1:25 000) – Goldstandard.
• „IGNrando’“ App: Offline-Karten & Notfall-Beacon.
• „IsulaTour“ (PNRC): Live-Meldungen zu Wegsperren, Feuergefahr, Hüttenauslastung.
- Öffentlicher Nahverkehr
• Schmalspurbahn „U Trinighellu“: Calvi–Bastia–Ajaccio; GR20-Knotenpunkte Calenzana und Vizzavona erreichbar.
• Sommerbus „Muvistrada“ bedient Bavella-Col & Porto. Fahrpläne schwanken – Abruf: muvistrada.fr.
• An der Ostküste private VTC-Shuttles („CorsicaBus“) für Mare e Mare Süd. - Hüttenetikette
Refuges bieten oft nur 2 Std. Solarstrom, keine Kartenzahlung. Küchenbenutzung außerhalb Kochzeiten (19–21 Uhr) untersagt. Mülltrennung: organisch vergraben, Restmüll im Tal entsorgen (Sackpflicht seit 2018). - Recht & Naturschutz
• Biwakieren generisch erlaubt oberhalb 1 h Gehzeit von Straßen, aber Juli/August > 1 000 m empfohlen (Mückengefahr).
• Feuerverbot 1 Juni–30 Sept unterhalb 1 800 m (Arrêté préfectoral feux de forêt).
• Hunde in Naturschutzkernen (Scandola, Fango, Tre Padule) verboten, selbst an Leine – Bußgeld 135 €. - Forschungs-Perspektiven & Trends
- Besucherzählung
Der PNRC arbeitet mit dem Start-up „Eco-Counter“: Infrarot-Schranken registrieren anonymisierte Durchgänge. 2023: 173 000 GR-Durchgänge auf 23 Stellen – +9 % ggü. 2022[6]. - Trailrunning & Fastpacking
Events wie „Restonica Trail 110 km“ belegen Boom. Konflikte mit klassischen Wanderern? Laut Studie V. Pasqualini (2022) fühlen sich 37 % der Wanderer gestört, wenn Läufer zu schnell und ohne Klingel überholen. PNRC plant „Time Slots“ auf Engpasspassagen. - Digitalisierung
Das Projekt „GiArta“ (Geo-Identification des artères de transhumance ancestrales) kartiert historische Schäferrouten per Drohne und LiDAR. Ziel: Wiedereinbindung verlassener Steige in nachhaltigen Tourismus. - Klimawandel
• Schneefreie Perioden auf GR 20 Nord haben sich seit 1980 um Ø 22 Tage verlängert (CNRS Meteo-Lab)[7]. Folge: Längere Saison, aber höhere Hitze-Stress-Risiken.
• Feuer: 2021 brannten 6 000 ha, v. a. in Balagne. Als Reaktion wurden 42 km Feuerschneise-Wanderwege dual genutzt. - Beispiel-Itineraries
- Mini-GR20“ (5 Tage)
Bavella – Refuge d’Asinau – Mte Alcudina – Col de Verde – Vizzavona. Ideal, um alpine Abschnitte zu erleben, aber logistisch einfacher dank Busanbindung in Vizzavona. - Familienwoche „Mare & Tavonu“
Basislager Ghisonaccia; Tagesausflüge auf Mare e Mare Centre + Strandnachmittage. Unterkunft: Gîte „A Mandria“. Geeignet April/Juni. - Herbst-Genuss (Oktober)
Mare e Monti Nord, Sektion Serriera → Girolata → Curzu: warme Meere, leere Hütten, Kastanienteppiche, ferries günstig.
Ein „Gebirge im Meer“ als Labor für Slow-Abenteuer
Ob Spitzkehre im Granitblock oder Sandspur durch Dünenwacholder – Korsikas Wege definieren den Begriff „Kontrast“. Jeder Höhenmeter verschiebt Flora, Dialekt, Käse-Typ und Himmelston. Wer sich darauf einlässt, erfährt nicht nur Landschaft, sondern ein breites Geschichtstableau: Römerpfade, Freiheitskriege, Klima-Science. Mehr noch als die spektakulären Gipfel macht dieses Mosaik die Faszination aus: das Wissen, nach vier Stunden Anstieg einen Adlerkreisel über Pozzi-Teichen zu sehen – und abends vielleicht schon wieder den Salzgeruch eines Küstenkorsos zu riechen.
Quellen (Auswahl, letzte Prüfung März 2024)
[1] PNRC: « Plan de gestion des sentiers GR20 », Rapport technique 2023.
[2] Université de Corse Pasquale Paoli – Lab. Sciences du Sport: « Taux d’abandon et facteurs de risque sur le GR 20 », Revue Montagne & Médecine 37/2 (2022).
[3] IFREMER / PNRC: « Erosion linéaire sur substrats meubles du GR 20 », Étude LiDAR 2021–22.
[4] Conservatoire du Littoral: « Diagnostic érosion dunaire – Littoral Sud », Ajaccio 2020.
[5] CNRS – Observatoire du Climat Alpin: « Statut des névés permanents du Monte Cinto », Bulletin 2023.
[6] Eco-Counter / PNRC: « Fréquentation des sentiers corses », Tableau de bord 2023.
[7] MeteoFrance / CNRS: « Tendances climatiques haute montagne corse 1980-2020 », Note scientifique n°14-21, 2021.
[8] FFRandonnée: Topo-Guides GR 20 (ed. 2023), Mare e Mare & Mare e Monti (ed. 2022).
[9] IGN: Cartes TOP25 4250OT–4281OT, Éditions 2023.
[10] Direction Départementale des Territoires et de la Mer (DDTM 2B): Arrêtés préfectoraux feux 2023.
[11] Pasqualini, V.: « Usages partagés des sentiers corses », Revue Espaces & Sociétés 200 (2022).
[12] LIFE-Eau-Corsica: Rapport final 2022 – Chemin de l’Eau Vizzavona.
[13] Gendarmerie PGHM Corte: « Bilan Secours Montagne », Année 2023.
[14] Parc Marin Cap Corse: « Sentier des Douaniers – Guide de bonne pratique », 2021.
[15] Start-up GiArta: Projet de cartographie des voies pastorales, Résultats préliminaires 2023.