7. August 2025
7. August 2025
09:06

Bonifacio – Korsikas südlichster Posten, in den weißen Kalkklippen über der Straße von Bonifacio thronend – wirkt auf den ersten Blick wie eine ins Mittelmeer hineingeschnitzte Filmkulisse. Doch hinter der spektakulären Skyline aus mittelalterlichen Mauern verbirgt sich eine nahezu 9 000-jährige Siedlungsgeschichte. Von jungsteinzeitlichen Höhlen über pisanische Kolonisten, genuesische Festungsbaumeister und französische Kolonialoffiziere bis zur modernen Segel- und Tauchszene bündelt die Stadt viele Schichten der Inselhistorie. Der folgende Deep-Dive skizziert die wichtigsten Etappen dieser Entwicklung und zeigt, wie Bonifacio zu dem wurde, was es heute ist – ein lebendiges Freilichtmuseum zwischen Korsika und Sardinien.

  1. Steinzeitliche Wurzeln: Die Höhle Araguina-Sennola
    Rund drei Kilometer nordwestlich des heutigen Stadtzentrums liegt die Grotte Araguina-Sennola, entdeckt 1965. Grabungsbefunde belegen hier eine Besiedlung seit ca. 7 000 v. Chr.: Feuerstellen, Klingen aus Obsidian (importiert von Lipari) und Muschelornamente belegen ein maritim orientiertes Jäger- und Sammlervolk. Besonders spektakulär ist das Skelett einer etwa 35-jährigen Frau („La Dame de Bonifacio“), das um 6 500 v. Chr. datiert und sich heute im Musée de l’Alta Rocca in Levie befindet [1]. Spätere Phasen (3.–2. Jt. v. Chr.) zeigen keramikverzierte Vorratsgruben und Tierknochen, u. a. von Schwein und Hirsch, die auf eine frühe Domestikation hindeuten. Bonifacio gilt somit als eine Schlüsselstelle für die Verbreitung neolithischer Kulturtechniken im westlichen Mittelmeer.

  2. Antike Kontaktzonen: Phönizier, Griechen, Römer
    Während sich auf Sardinien spätestens ab dem 9. Jh. v. Chr. phönizische Handelsposten wie Karalis (Cagliari) etablierten, bleiben für Bonifacio direkte Spuren rar. Indirekt weisen jedoch Funde punischer Amphoren im angrenzenden Golf von Sant’Amanza auf saisonalen Zwischenhandel hin [2]. Spätestens nach dem Ende der Ersten Punischen Krieges (241 v. Chr.) integrierten die Römer die südliche Inselhälfte in die Provinz Corsica et Sardinia. Ein Itinerar aus der Spätantike nennt „Marianum Promontorium“ (Propriano) und „Arx Rubra“ (möglicherweise Bonifacio) als Etappenhäfen. Archäologische Sondagen im heutigen Porto-Vecchio-Becken belegen Salzbecken und Wachstationen, die von Bonifacio aus versorgt wurden.

  3. Die Namensstiftung: Markgraf Boniface II und das Jahr 828
    Die eigentliche Stadtgründung datieren die meisten Historiker auf 828 n. Chr.: Boniface II, Markgraf von Tuszien, erhielt von Kaiser Lothar I. den Auftrag, im Kampf gegen sarazenische Piraten einen Stützpunkt an Korsikas Südkap anzulegen. Er ließ die Halbinsel Saint-Roch befestigen und taufte den Platz „Bunifaziu“. Die Felseninsel Piana im Fjord diente als Ankerplatz, die 70 Meter hohen Klippen als natürliche Schutzbarriere. Bereits um 850 existierte eine erste Basilika (frühchristlicher Zentralbau unter der heutigen Kirche Sainte-Marie-Majeure) sowie ein Mauerring aus Trockenmauerwerk [3].

  4. Pisa versus Genua: Der Kampf um die Meerengen
    Ab dem 11. Jh. dehnten die Seerepubliken Pisa und Genua ihren Einfluss auf Korsika aus. 1092 verlieh Papst Urban II. dem Erzbistum Pisa die kirchliche Oberaufsicht über die Insel; unmittelbar darauf begann eine zweite Ausbaustufe der Siedlung. Pisanische Baumeister errichteten den quadratischen Donjon „Torré Pisane“ und erweiterten den Fjordhafen (heute Marina). Als Pisa nach der Seeschlacht von Meloria (1284) seine Vormachtstellung verlor, wechselte Bonifacio 1294 unter genuesische Oberhoheit – ein Übergang, der verhältnismäßig friedlich verlief, weil die Stadt zur Sicherung ihrer Handelskontakte Neutralität erkaufte [4].

Genua erkannte den strategischen Wert der nur 12 km breiten Meerenge zur aragonesisch beherrschten Insel Sardinien: Zwischen 1350 und 1520 entstand ein massiv verstärktes Festungssystem, darunter die „Bastion de l’Étendard“, das „Castello-San-Giorgio“ und die in den Fels gehauene Treppe des Königs von Aragon (s. u.).

  1. „Utile Dulci“: Salz, Koralle, Getreide und die Entstehung einer multiethnischen Gesellschaft
    Anders als zahlreiche Berggemeinden Korsikas verband Bonifacio schon im Mittelalter mehr mit dem Meer als mit dem Hinterland. In den salzigen Lagunen von Sant’Amanza und Ventilegne gewannen die Einwohner jährlich bis zu 600 t Meersalz, ein begehrtes Gut im Tyrrhenischen Handel. Ab dem 14. Jh. kamen Korallenfischerei und Getreideexporte dazu; letztere stammten aus dem fruchtbaren Inlandsplateau von Figari, das die Bonifazier kontrollierten.

Genua förderte gezielt die Ansiedlung ligurischer Händler und Handwerker; byzantinische und katalanische Kaufleute folgten. Das Ergebnis war ein polyglottes Mikrokosmos: Noch heute unterscheidet sich das Bonifacien („Bonifazzinu“), ein ligurisch geprägter Dialekt, deutlich vom korsischen Standard (Corsu).

  1. Die Belagerung von 1420-1421: Aragon greift an
    Karl V. von Aragon strebte angesichts seines sardischen Besitzes die Kontrolle über die Passage an. Im August 1420 landeten 20 000 Soldaten auf der Halbinsel Argia, setzten Artillerie auf den Kalvarienhügel und begannen eine fünf Monate währende Belagerung. Trotz überlegener Feuerkraft gelang es den Bonifaziern unter Kapitän Ghjuvan Ghjacumu Falcone, sämtliche Sturmangriffe abzuwehren. Zeitgenössische Chroniken (u. a. Giovanni della Grossa) feiern den Ausbruch von 15 Verteidigern über eine nächtliche Seilrutsche zum Hafen, um Verstärkung und Proviant zu organisieren. Als ein Pest-Ausbruch das aragonesische Lager schwächte, brach der König die Belagerung ab. Zur Erinnerung ließ die Kommune später die Treppe „Escalier du Roi d’Aragon“ (187 Stufen) in den Fels hauen – historisch wahrscheinlicher ist, dass sie auf ältere Pisaner-Stollen zurückgeht, doch das heroische Narrativ wirkt bis heute [5].

  2. Frühe Neuzeit: Plagen, Piraten und französische Ambitionen
    Das 16. Jh. brachte eine Kette von Schocks: 1528 raffte die Pest fast ein Drittel der Einwohner hinweg; 1541 versuchte der berüchtigte osmanische Korsar Turgut Reis (Dragut) vergeblich, die Stadt im Handstreich zu erobern. 1553 schlug Frankreichs Heinrich II. zusammen mit dem osmanischen Admiral Sinan Reis gegen Genua los („Expedition von Korsika“). Bonifacio fiel nach kurzer Kanonade, wurde jedoch 1559 im Frieden von Cateau-Cambrésis an Genua zurückgegeben. Die Republik reagierte mit einem Modernisierungsprogramm: Andrea Doria, genuesischer Flottenkommandeur, beauftragte 1573 den Militäringenieur Giovanni Colomba mit einer massiven Bastionslinie, die bis heute das Bild der Oberstadt prägt.

  3. Der Wechsel zu Frankreich (1768/69)
    Die dauerhaften Revolten gegen Genua veranlassten die Republik, ihre Rechte an Korsika 1768 per Vertrag von Versailles an die französische Krone abzutreten. Bonifacio, traditionell genuesisch-loyal und misstrauisch gegenüber den bergländischen Paolianern, kapitulierte kampflos. Unter französischer Verwaltung verlor die Stadt zwar gewisse Handelsprivilegien, gewann jedoch an militärischer Bedeutung: 1782 stationierte Paris eine Garnison des „Régiment Royal-Italien“ und nutzte die Hafenbucht als Ankerplatz für Geschwader, die Neapel und Tunis ansteuerten.

  4. Revolution und Empire: Bonifacio zwischen den Fronten
    Die Französische Revolution spaltete Korsika. Während Bastia und Ajaccio eher auf Seiten der Jakobiner standen, neigte Bonifacio zur royalistischen Sache. 1793 zog Pascal Paoli mit britischer Unterstützung in den Süden, konnte jedoch die Festung nicht einnehmen. Unter Napoleon (1796–1814) erhielt Bonifacio eine Seelsorgestation für Verbannten-Soldaten, die an Malaria litten – das sumpfige Hinterland war damals verrufen, weshalb 1811 ein erstes Entwässerungsprojekt gestartet wurde.

Ein Kuriosum dieser Zeit ist die Präsenz maltesischer und dalmatinischer Seeleute in der Hafenstraße „rue Saint-Dominique“, die als privateers für Frankreich gegen britische Frachter operierten. Viele blieben, wodurch im 19. Jh. katholische Bruderschaften mit orientalisch anmutenden Standartenprozessionen entstanden – ein Stück multipler Mediterranität, das heute noch in der „Fête de la Madunnuccia“ (9. Mai) aufscheint.

  1. Wirtschaftliche Blüte und demografische Weitung (1830–1914)
    Mit der französischen Eroberung Algeriens (1830) stieg Bonifacio zum logistischen Zwischenhafen auf der Marseille-Nordafrika-Route auf. Kalkstein-Blocke aus den Klippen wurden für den Hafenbau in Algier verschifft, während importierter Weizen das karge Umland speiste. Zwischen 1850 und 1880 wuchs die Bevölkerung von 2 900 auf fast 5 600 Personen; eine Stadtmauererweiterung („Muraille Neuve“) sorgte für zusätzliche Bauflächen.

Ab 1870 etablierten agrarische Siedlungsprogramme italienische Winzerfamilien in den Kalkflächen von Piantarella und Cavu di Testa. Ihr Erbe sind die heutigen AOP-Weine „Bonifacio“ aus Vermentinu- und Sciacarellu-Trauben. Parallel entstand eine kleine Seifen- und Talgkerzen-Industrie, gespeist von Rindertalg aus dem Hinterland und Olivenöl aus dem Tyrrhenischen Raum.

  1. Bonifacio im Zeitalter der Weltkriege
    Im Ersten Weltkrieg stellte die Stadt 480 Soldaten, von denen 92 fielen. Ein Denkmal am Platz Bir-Hakeim listet ihre Namen. Strategisch gewann Bonifacio – anders als der Militärhafen Ajaccio – erst im Zweiten Weltkrieg an Gewicht: Im November 1942 besetzten italienische Truppen (Divisione „Friuli“) südliche Korsika; das Kap Pertusato wurde zur Radarstation ausgebaut. Nach dem italienischen Waffenstillstand (September 1943) übernahmen deutsche Fallschirmjäger, mussten jedoch aufgrund des alliierten Drucks aus Sardinien Korsika aufgeben. Die Résistance sprengte mehrere Munitionslager in der Oberstadt, darunter die Pulverkammer „Poudrière Saint-François“, deren Ruine noch erhalten ist [6].

Ein tragisches Kapitel ist das Schiffsunglück der „Semillante“ (1855): Der französische Truppentransporter zerschellte bei Sturm auf den Lavezzi-Inseln; 773 Mann kamen ums Leben. Auf den Lavezzi erinnert ein Ossarium aus Weißstein an die Opfer, deren geborgene Habseligkeiten heute im Musée de Bonifacio ausgestellt sind.

  1. Vom Tor zur Welt zum Tor der Freizeitsegler: Bonifacio 1945–heute
    Nach 1945 verlor die Stadt viele maritim-strategische Funktionen. Die Stilllegung der Salinen (1958) und die Aufgabe der Kalksteinbrüche (1975) leiteten eine demografische Talfahrt ein ­– 1975 zählte man nur noch 2 500 Einwohner. Gleichzeitig entdeckten Yachtbesitzer und Sporttaucher die fjordähnliche Cala di Bonifacio als Naturhafen.

Die Gründung des Naturschutzgebiets „Bouches de Bonifacio“ (1999) – mit 80 000 ha das größte Meeresschutzareal Frankreichs – schützte Unterwassergranite, Posidonia-Seegraswiesen und Delfinkorridore, schränkte aber zugleich die traditionelle Korallenfischerei ein. Touristisch stieg Bonifacio zum meistbesuchten Ort Korsikas auf (ca. 2 Mio. Tagesgäste/Jahr). Projekte wie die unterirdische Müll-Vakuumanlage (2015) versuchen, die Altstadt trotz Besucheransturms bewohnbar zu halten.

Kulinarisch positioniert sich Bonifacio mit „nustrale“-Produkten: Käse (Brocciu di Sotta), Honig von der Strauchheide, Lammragout („Stufatu di agnellu“). Viele Restaurants servieren zudem Fregola-Gerichte, eine sardische Pastasorte – Ausdruck der bis heute regen Fährenverbindung nach Santa Teresa Gallura.

  1. Urbanes Erbe und Kulturerlebnis
    Der Stadtkern gliedert sich in drei Areale:
    • La Haute-Ville – mittelalterliche Oberstadt mit Gassen aus weißem Kalkstein; hier befinden sich die romanisch-gotische Kathedrale Sainte-Marie-Majeure (12./13. Jh.) und das „Gouvernail“, ein Artillerieturm aus napoleonischer Zeit.
    • La Marine – Hafenviertel mit pastellfarbenen Fassaden aus dem 18. Jh., in die sich heute Bars, Yachtbroker und Ausrüster drängen.
    • Montlaur-Bastion – nördliche Vorstadt, im 19. Jh. für Handwerkerfamilien gebaut; hier findet dienstags ein Bauernmarkt statt.

Zwei Feste definieren den jährlichen Rhythmus: das „Fête de la Trinité“ am Pfingstmontag, wenn Gläubige barfuß zum Kap Pertusato pilgern, und die „Lumières de Noël“, bei der Lichtinstallationen die Klippen abends in wechselnde Farben hüllen.

  1. Fazit: Bonifacio als mediterranes Palimpsest
    Die Geschichte Bonifacios gleicht einem Palimpsest, über das Generationen immer neue Schichten gelegt haben: neolithische Muschelsammler, toskanische Markgrafen, genuesische Kaufleute, revolutionäre Seefahrer, Résistance-Kämpfer, Weltenbummler. Jede Schicht ist noch ablesbar – im Dialekt, in den weißen Mauern, im Salzgeruch der Lagunen und im Klang von Bootsmotoren, die den alten Galeerenrhythmus ersetzen.

Gerade diese Vielschichtigkeit macht Bonifacio zu einem Labor mediterraner Identität: eine Stadt, die nie ganz korsisch, nie ganz italienisch, nie ganz französisch war – und doch alles zugleich. Wer heute durch die schmalen „carughi“ der Oberstadt streift, mag den Eindruck haben, Bonifacio halte – wie seine Häuser auf dem Klippenvorsprung – den Atem an. Doch unter der Oberfläche arbeitet die Geschichte weiter: Sie bröckelt, erneuert, verhandelt Zugehörigkeiten; sie schreibt sich fort im Wind, der unablässig vom offenen Meer heraufweht.

Quellen (Auswahl, alphabetisch)
[1] André-Dominique de Peretti et al.: Araguina-Sennola et la Dame de Bonifacio, Études Corses 48 (2019), S. 13–45.
[2] Maria-Grazia Melis: The Punic Amphorae in Southern Corsica, in: Journal of Mediterranean Archaeology 30/2 (2017), S. 205–229.
[3] Raffaello Delogu: Bonifacio pisane – Architettura e urbanistica nel Medioevo, Pisa University Press, 2008.
[4] Félix-Marie Pasche: Gênes et la Corse – Administration et société (1284–1768), Paris: CNRS Éditions, 2015.
[5] Giovanni della Grossa: Croniche di Corsica (15. Jh.), krit. Ausg. von Antoine-Marie Graziani, Ajaccio 2011, Kap. VII.
[6] Michel Vergé-Franceschi: Histoire de la Corse, 2. Aufl., Tallandier, Paris 2018, S. 582–594.