8. August 2025
8. August 2025
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Calvi – Korsikas Zitadellenstadt zwischen Mythos, Meer und Militär

  1. Auftakt am Golfe de Calvi
    Wer heute auf der Terrasse des „Chez Tao“ oberhalb der mächtigen Befestigungsmauern sitzt, sieht eine Postkarte: türkisfarbenes Wasser, Pinienhaine, das bis 2 145 m aufragende Monte-Cinto-Massiv im Rücken. Doch die Schönheit verschweigt, dass Calvi (korsisch „Calvi“ oder „Calvi di l’Isula“) immer wieder Schauplatz geopolitischer Spannungen war – von römischen Salzschiffen über genuesische Kaufleute bis zur französischen Fremdenlegion. Die Stadt ist ein Brennglas korsischer Geschichte, gebündelt auf kaum zwei Quadratkilometern.

  2. Frühgeschichte und Antike – ein Ankerplatz zwischen Macchia und Mare
    In der Balagne, der „Gartenregion“ Nordwestkorsikas, belegen Keramikscherben der Cultura di Torre (ca. 1 500 v. Chr.) erste Siedlungsaktivität. Der heute trockengelegte Étang de Crovani war Jagd- und Fischrevier. Römische Itinerarien nennen beim Meilenstein 133 die „Statio Balanea“. Ausgrabungen an der Punta San Francescu förderten 1998 Amphoren Typ Dressel 31 zutage – Hinweise auf Weinexport nach Gallia Narbonensis [1]. Mit dem Untergang Westroms verlagerte sich die Bevölkerung in Bergdörfer wie Lumio, um sich vor Sarazenen­angriffen des 9.–10. Jh. zu schützen.

  3. Die genuesische Neugründung (1268 ff.)
    Nach dem Seesieg von Meloria (1284) erlangte Genua die Oberhoheit über Korsika. Die Kaufmannsbank Casa di San Giorgio setzte in Balagne auf Holzexport (See-Kiefer, Wacholder) und benötigte einen sicheren Hafen. 1268 entstand auf einem Granitsporn die rechteckige Kernburg; ab 1483 erweiterten die Ingenieure Danese Giacomo und Giorgio Doria die Anlage zu einer fünfeckigen Bastion mit Kasematten – der heutigen Citadelle. Politisch erhielt Calvi durch das Statut „Terra vegia e leale“ Autonomierechte, solange es Genua treu blieb. Der Wahlspruch „Civitas Calvi semper fidelis“ prangt bis heute über dem Stadttor.

  4. Salz, Korallen und die Kolumbus-Legende
    Wirtschaftlicher Motor waren die nahegelegenen Salzgärten von Figarella sowie rote Edelkorallen („oro rosso“) vor der Scandola-Halbinsel. In den Steuerregistern 1510 führen Korallen 38 % der Ausfuhren [2]. Aus derselben Epoche stammt der hartnäckige Mythos, Christoph Kolumbus sei 1436 in Calvi geboren. Stilisierte Unterschriften und Lokalchroniken liefern Indizien, doch eindeutige Belege fehlen; Historiker sehen darin eher ein 19.-Jahrhundert-Konstrukt, um den Tourismus zu befeuern.

  5. Belagerung, Pulver und Nelsons Auge (1794)
    Obwohl Genua 1768 ganz Korsika an Frankreich abtrat, verweigerte Calvi die Übergabe. Es blieb letzter genuesischer Brückenkopf, bis britisch-korsische Truppen unter General Charles Stuart und Admiral Horatio Nelson im Juni 1794 eine 51-tägige Belagerung begannen. 9 000 Kanonenkugeln trafen die Mauern; Nelson verlor dabei sein rechtes Auge. Am 10. August kapitulierte die Stadt. Für kurze Zeit gehörte Calvi zum „Royaume Anglo-Corse“, einer kruden Monarchie unter Sir Gilbert Elliot – ein Intermezzo, das 1796 mit dem Rückzug der Briten endete [3].

  6. Französische Integration und die Ära Paoli
    Nach der Revolution gliederte Paris Calvi in das Département Golo ein, ließ die Zitadelle modernisieren und stationierte Zoll- und Telegrafendienste. 1836 zählte der Hafen 1 620 Einwohner, von denen fast jeder Vierte in der Seefahrt beschäftigt war. Gleichzeitig florierte die Balagne-Landwirtschaft: Olivenöl und Zitrusfrüchte machten Calvi zum Ausfuhrfenster Richtung Marseille. Das Stadttheater (1845) und die neoklassizistische Pfarrkirche Sainte-Marie-Majeure (1774, barockisiert 1928) zeugen vom Selbstbewusstsein einer kleinen, aber weltoffenen Bürgerschaft.

  7. Telegraphendrähte, Schmalspurbahn und Belle-Époque-Kurgäste
    Mit dem Ausbau der „voie ferrée de la Balagne“ (1888–93) wurde Calvi an Bastia und Ajaccio angebunden. Die pittoreske Strecke, heute von Touristen als „U Trinighellu“ geliebt, ermöglichte erste Strandhotels: Das „Grand Hôtel de Balagne“ (1907) platzierte Palmengärten am 6-km-Sandbogen zwischen Pointe de la Revelatta und Ile Rousse. 1912 verzeichnete das Hafenamt bereits 12 000 Urlauber – ein Vorläufer der späteren Jet-Set-Szene.

  8. Krieg, Résistance und die Geburt des 2e REP
    Im Zweiten Weltkrieg besetzte Italien ab November 1942 Nordkorsika. Calvi diente als Nachschubhafen für die Divisione Cremona. Nach dem italienischen Waffenstillstand (8. September 1943) mobilisierte die korsische Résistance („Front National d’Ajaccio“) Sabotagetrupps, die von französischen Fallschirmspringern unterstützt wurden. Am 4. Oktober 1943 hisste man über Calvi die Trikolore – Korsika war damit erstes befreites Département Frankreichs [4]. 1967 verlegte die Armee das Elite-Fallschirmjägerregiment 2e REP der Fremdenlegion von Algerien in die Ex-Zitadelle. Bis heute dominiert die Legion das Stadtbild mit Paradeaufmärschen am 14. Juli.

  9. Tourismusboom und ökologische Gratwanderungen (1960 ff.)
    Der Flughafen Calvi-Sainte-Catherine (1959) und Charterflüge aus Paris brachten jährlich wachsende Besucherströme: 25 000 (1965), 150 000 (1980), 390 000 (2019). Gleichzeitig schuf das Conservatoire du Littoral Schutzgebiete wie die Halbinsel Revellata (Site Natura 2000). Doch Bauspekulation bleibt Thema: Zwischen 1990 und 2020 stieg der Anteil von Zweitwohnsitzen von 14 % auf 41 %; Trinkwasserknappheit im Juli/August zwingt zu nächtlichen Entnahmen aus dem Fango-Fluss.

  10. Kultur, Mythen und Gegenwartsprofile
    • Feste: Das „Festival Calvi on the Rocks“ (seit 2003) zieht Electro-Fans an und schafft ein Spannungsfeld zwischen Partykultur und Lärmschutz.
    • Kulturerbe: Das „Musée Colomb“ erklärt die Kolumbus-Debatte multimedial. Führungen auf der „Tour du sel“ zeigen Genueser Militärarchitektur.
    • Wein: Die AOP „Patrimonio–Calvi“ bringt frische Sciaccarellu-Rosés hervor, die auf Hafenpromenaden serviert werden.
    • Wissenschaft: Die Meeresstation STARESO (Station de Recherches Sous-Marines et Océanographiques) untersucht seit 1972 das Klimaverhalten des westlichen Mittelmeers.

  11. Herausforderungen und Zukunft
    (1) Identitätsbalance: Fremdenlegion, Genueser Erbe, Kolumbus-Marketing – Calvi ringt um eine kohärente Erzählung.
    (2) Nachhaltigkeit: Bis 2030 soll ein Landstrom-Terminal Kreuzfahrtschiffe emissionsfrei bedienen; oppositionelle Bürgerinitiativen fordern Obergrenzen für Schiffsanläufe.
    (3) Demografie: Von 5 175 Einwohnern (INSEE 2023) sind 29 % über 65 Jahre; Jugend wandert in Universitätsstädte ab. Ein Co-Working-Hub in der Altstadt setzt daher auf „digitales Nomadentum“ als Rückholstrategie.

  12. Schluss – Calvi als „Korsika im Brennglas“
    Calvi vereint auf engstem Raum prähistorische Märkte, mittelalterliche Bastionen, koloniale Schlachten und postmoderne Strandmusik. Seine Geschichte verdeutlicht, wie äußere Mächte – von Genua bis London – lokale Strukturen formten, wie Tropenkrankheiten und Telegraphenkabel, Festungsmauern und Festivals ein Mosaik ergeben. Wer bei Sonnenuntergang auf der Zitadellenrampe steht und das Licht über der Bucht verblassen sieht, spürt das Echo von Kanonen, Schiffshörnern und DJ-Beats. Calvi war selten Zentrum, aber immer Vorposten – ein Ort, der Seismograf größerer mediterraner Wellen blieb und wohl weiterhin bleiben wird.

Quellen (Auswahl)
[1] Jean-Dominique Poli: Archéologie de la Balagne romaine, Presses Universitaires de Corse, Corte 2021.
[2] Antoine-Marie Graziani: La Corse génoise – Histoire d’une domination (1284-1768), Tallandier, Paris 2015, Kap. 9.
[3] Charles E. P. Nelson: The Siege of Calvi 1794, Navy Records Society Monograph 27, London 1999.
[4] Jean-Marie Arrighi: La Corse dans la Seconde Guerre mondiale, Albiana, Ajaccio 2020, S. 242–259.
[5] Michel Vergé-Franceschi: La Corse et la mer – Mille ans de relations, Fayard, Paris 2016.
[6] INSEE: Dossier complet – Commune de Calvi (2B050), Mise à jour 2023.
[7] Conservatoire du Littoral: Plan de gestion du site de la Revellata, Rapport 2022.