Corsu: Eine kurze Kulturgeschichte der korsischen Sprache
Wennende in einer Bar in Corte „Cumu ti chjami?“ statt „Comment tu t’appelles ?“ hören, erleben sie keinen exotischen Dialekt des Französischen, sondern Corsu, die eigenständige romanische Sprache der Île de Beauté. Ihr Status changiert bis heute zwischen Alltagsidiom, identitärem Banner und gefährdeter Minderheitensprache. Ein Streifzug durch ihre Geschichte, Strukturen und Perspektiven zeigt, warum Korsisch mehr ist als Folklore.
- Ursprünge: Latein, Ligurien, Toskana
Korsika war ab 238 v. Chr. Teil des Römischen Reiches; Kolonisten hinterließen eine Volkslateinschicht, aus der sich das Korsische entwickelte. Im Frühmittelalter gehörten Inselteile politisch zu Pisa, später zu Genua. Linguisten ordnen Corsu deshalb der italo-romanischen Gruppe zu, näher beim Mittel- und Oberitalienischen als bei Sarden oder Provenzalen (Tuttle 2017). Älteste Textzeugnisse sind ein Zolltarif aus Bonifacio (1240) und die „Carte d’Istria“ (1421), geschrieben in einem Mix aus Tuskanisch und lokalen Lautformen – z. B. ghj /ʤ/ für lat. CL- (ghjente < gente).
- Dialektduo: Cismuntincu und Pumuntincu
Die Felsbarriere des Monte-Rotondo-Massivs teilt die Insel linguistisch:
• Cismuntincu (Nord-/Ostküste) tendiert zur toskanischen Palette: Quattru „vier“, chjave „Schlüssel“.
• Pumuntincu (Süd-/Westküste) zeigt offenere Vokale und sardische Einflüsse: Quattru → Quattru, chjave → kjavi.
Eine gemeinsame Schriftsprache wurde 1981 mit der „Ortografia di a lingua corsa“ kodifiziert, toleriert aber Spielraum für regionale Graphien (Cesari 2019).
- Von Paoli bis Jules Ferry: Sprachpolitik im Pendel
Die revolutionäre Verfassung von Pasquale Paoli (1755) erschien auf Italienisch, damals Elitensprache Korsikas. Nach der französischen Annexion 1769 verdrängte Paris konkurrierende Idiome systematisch: Das Dekret Guizot (1833) machte Französisch alleinige Unterrichtssprache; 1925 verbot der „Circulaire Chiappe“ sogar korsische Gespräche auf Schulhöfen. Dennoch blieb Corsu Familiensprache, vor allem in Bergdörfern, und diente Partisanen im Zweiten Weltkrieg als Geheimsprache (Colonna 2018).
- Grammatik in Nuce
- Phonologie: Stimmhafte Plosive lenisieren intervokalisch (libru /ˈlibru/ → libri /ˈlibɾi/). Doppelkonsonanten sind bedeutungsunterscheidend (pala „Schaufel“ vs. palla „Ball“).
- Morphologie: Artikel unterscheiden absolut und amalgamiert: u libru „das Buch“, lu contu „die Geschichte“.
- Verben: Drei Konjugationen; Futur analytisch aus „aghju da“ + Infinitiv (aghju da falà „ich werde hinuntergehen“).
- Lexik: Griechische und Arabismen aus der Seefahrt (falchetta „Reling“ < ḥalq, ħalq), jüngst Gallizismen: tixtu „SMS“.
- Gegenwart: Zahlen, Unterricht, Medien
Laut INSEE (2023) sprechen noch rund 86 000 Personen Corsu aktiv (≈ 25 % der Bevölkerung), verstehen es aber über 40 %. Die UNESCO listet es als „definitiv gefährdet“. Politischer Rückenwind kam 1991 mit dem Statut der Collectivité de Corse, das regionale Sprachen fördert. Seither:- Schule: 2 h/Woche Wahlpflichtfach an 70 % der Grundschulen; 3 000 Kinder besuchen zweisprachige Klassen (Académie de Corse 2022). Der concours CAPES de Corse bildet seit 1999 Lehrkräfte aus.
- Medien: France 3 Via Stella sendet täglich 30 min Nachrichten auf Corsu; Radio Frequenza Mora erreicht 100 000 Zuhörer. Wikipedia corsu verzeichnet > 17 000 Artikel, und die App „Dizziunariu corsu-francese“ wurde 25 000-mal geladen.
- Kultur: Pop-Bands wie I Muvrini oder Rapper S’Inkiuvà nutzen Corsu; 2009 erschien die erste Graphic Novel „A Filletta“ komplett in der Sprache.
- Streitpunkte: Offizieller Status und Orthografie
2013 beantragte die Regionalversammlung den Co-Amtsstatus für Corsu; Paris lehnte mit Verweis auf Artikel 2 der Verfassung („La langue de la République est le français“) ab. Stattdessen wurde 2022 ein „Plan Langue corse IV“ verabschiedet, der 50 % zweisprachige Abiturienten bis 2030 anpeilt. Kritik kommt sowohl von Puristen, die eine strengere Standardisierung wollen, als auch von französischen Zentralisten, die „separatistische Symbolkraft“ befürchten.
- Zukunft: Gefahr oder digitales Revival?
Migration und Tourismus schwächen die Transmission in Familien; zugleich entstehen neue Lernräume: Abendkurse für Zugezogene, MOOCs der Universität Corte, Social-Media-Kanäle wie „Parlemu Corsu“ auf TikTok. Sprachsoziologen beobachten einen „Invertierten Diglossie-Trend“: Während ältere Sprecher im Privaten Corsu nutzen, verwenden junge Aktivisten es öffentlich – in Rap-Lyrics, Graffiti oder Podcasts (Tufi 2021).
Corsu hat Jahrhunderte politischer Restriktionen überlebt, weil seine Sprecher es situativ anpassten: mal Widerstands-Kode, mal Wiegenlied, heute Hashtag. Ob die Sprache 2100 noch auf den Straßen von Ajaccio erklingt, hängt weniger von Paris ab als von der Frage, ob junge Korsen sie als Werkzeug moderner Selbstentfaltung begreifen. Wer also „Cumu ti chjami?“ verständlich antworten kann, trägt nicht nur zur Vielfalt Europas bei, sondern auch zu einer der ältesten Stimmen des Mittelmeers.
Quellen und weiterführende Literatur
- INSEE. “Tableaux de l’économie corse 2023.” Paris, 2023.
- UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger. Entry: Corsican, 2022.
- Académie de Corse. Plan Langue corse IV : Bilan 2022. Ajaccio, 2023.
- Cesari, P. “Normes et variantes de l’orthographe corse.” Revue Linguistica 35 (2019): 77-99.
- Colonna, François. La diaspora corse. Ajaccio: Albiana, 2018.
- Tufi, Stefania. “Re-imagining Minoritized Languages in Digital Media.” Journal of Sociolinguistics 25 (2021): 232-250.
- Tuttle, Edward. “Corsican.” In: Ledgeway & Maiden (Hg.), The Oxford Guide to Romance Languages. Oxford UP, 2017.
- Direction Régionale des Affaires Culturelles (DRAC). “Enquête sur la pratique du corse 2019.” Ajaccio, 2020.
- France Télévisions. Rapport d’audience Via Stella 2022. Paris, 2023.
- Pasquale Paoli. Costituzione della Corsica. Bastia, 1755 (Faksimile 2015).