6. August 2025
6. August 2025
12:03

Die Geburt Korsikas – eine geologische Zeitreise

Die Geburt Korsikas – eine geologische Zeitreise

Wer heute auf der kühnen Krete des Monte Cinto steht, blickt nicht nur über ein atemberaubendes Meer aus Felsgraten und Macchia, sondern auch über fast 500 Millionen Jahre Erdgeschichte. Korsikas Topografie ist das Ergebnis mehrerer tektonischer Großereignisse, die den Mittelmeerraum formten. Im Folgenden zeichnen wir diese Geschichte nach – von den ältesten kristallinen Kernen über alpidische Kollisionen bis zur Öffnung des Tyrrhenischen Beckens – und zeigen, wie aus einem Stück Urkontinent eine Insel mit eigener Identität wurde.

Ein uraltes Fundament (Präkambrium – Unteres Paläozoikum)
Im Nordwesten Korsikas, etwa um Calvi und das Balagne-Gebiet, liegen Gneise und Glimmerschiefer, die isotopisch auf 550–480 Ma datiert werden. Diese Einheiten bilden das „schieferne Korsika“ und stammen aus Krusten­segmenten des damaligen Nord-Gondwanas. Hoher Druck und Temperatur deuten auf die tiefen Wurzeln eines frühen Gebirgs­gürtels hin, der längst erodiert ist; an der Oberfläche geblieben ist nur das metamor­phe Grundgebirge.

Die variszische Gebirgsbildung (ca. 340–290 Ma)
Als im Oberkarbon Gondwana mit Laurussia kollidierte, entstand der Variszische Ozeanbogen; Korsika lag mitten in diesem Kollisionsgürtel. Mächtige Granit- und Granodiorit-Plutone wurden in die ältere Kruste intrudiert. Heute prägen sie das „granitische Korsika“, das sich bogenförmig von Porto-Vecchio über Corte bis Asco erstreckt. Tektonische Scherzonen wie die „Cinto-Schubzone“ belegen intensive Krustenverkürzung, später gefolgt von extensionaler Relaxation. Die heute touristisch berühmten Aiguilles de Bavella sind verkippte variszische Granitdome.

Die ruhige Zeit am Tethys-Rand (Perm – Oberjura)
Nach dem Zerfall Pangäas driftete Korsika an den Südrand der jungen Europäischen Platte. Dort entwickelte sich ein passiver Kontinentalrand, auf dem mächtige Karbonat-Plattformen abgelagert wurden: Kalksteine, Dolomite und Riffkalk bilden heute die weißen Klippen von Bonifacio. Zeitgleich entstanden jurassische Radiolarite und flyschartige Tonschiefer in tieferen Beckenbereichen.

Die alpidische Kollision (Kreide – Eozän)
Mit der Annäherung Afrikas klappte die ozeanische Ligurisch-Piemontesische Kruste unter Europa ab. Subduktionsmetamorphose erzeugte Blauschiefer- und Eclogit-Fazies, die besonders im Nordosten (Castagniccia, Nebbio) freigelegt sind und Drücke von >18 kbar dokumentieren. In der Folge wurden mehrere Decken („Nappes“) aus ozeanischen Sedimenten, Serpentinit und kontinentale Krustensegmente übereinander geschoben, wodurch sich ein hoher Gebirgsstapel bildete – das Proto-Apennin, an dessen Westflanke Korsika angeheftet blieb.

Exhumation und Hebung (Spätes Eozän – Oligozän)
Rückwärtige Erosion, Scherung entlang vertikaler Großstrukturen sowie synorogene Abschmelzung reduzierten die Gebirgs­höhe, während der obere Krustenkeil nach Westen hinausgedrückt wurde. Die Abtragung setzte metamorphes Hochdruckgestein frei; oberhalb 1 500 m lassen sich heute polierte Glazialformen beobachten, die im Quartär weiter modelliert wurden.

Das Corsica-Sardinia-Mikroplate rotiert (23–15 Ma)
Mit dem Zusammenbruch der Subduktion drehte sich das Korsika-Sardinien-Segment um etwa 30° gegen den Uhrzeigersinn, begleitet von Back-arc-Extension. Der Liguro-Provençalische Ozean öffnete sich, während auf der Ostseite (Margine orientale) Vulkanite austreten: Andesit- und Rhyodacit-Laven bilden im Taravo-Gebiet kleine Vulkankegel; Rhyolitische Tuffs sind als hellrote „Poudingue“ erhalten. Diese Magmen zeigen arc-typische Trace-Element-Signaturen und markieren das Ende aktiver Subduktion.

Quartäre Modellierung – Gletscher, Küsten und Karst (2,6 Ma – Holozän)
Während der Eiszeiten bedeckten lokale Gletscher das Monte-Cinto-Massiv; Moränen bei Haut Asco und U-Täler bei Restonica sind deutliche Spuren. Gleichzeitig senkte die Isostasie den Meeresspiegel, sodass Fluss­schotter weit vor die heutige Küsten­linie verfrachtet wurden. Im Holozän hob sich das Eiland erneut um einige hundert Meter – eine mögliche Folge litho­statischer Entlastung – und erzeugte marine Terrassen, die nun zehn bis 80 Meter über dem Meer liegen.

Tektonische Ruhe – nur scheinbar
Aktuelle GPS-Netze zeigen, dass Korsika sich weiterhin 2–3 mm /Jahr nach Nordost bewegt. Die meisten seismischen Ereignisse sind Mikro-Erdbeben (<M 3), dennoch erinnert das Beben von 1963 bei Ajaccio (M 5,6) an die persistente Spannungsakkumulation entlang spätvariszischer Störungen. In der Tiefenstruktur seismischer Tomographien zeichnet sich eine kalte Lithosphären­platte in ca. 100 km Tiefe unter dem Tyrrhenischen Meer ab – ein Rest der subduzierten Ligurischen Kruste.

Geodiversität bestimmt Biodiversität
Die geologische Zweiteilung – Granit im Westen, Schiefer und Kalk im Osten – prägt Böden, Hydrologie und Flora. Im silikatischen Westen gedeihen Schwarzkiefern (Pinus nigra laricio) und endemische Saxifragen, während auf kalkigen Böden der Ostküste Olivenhaine dominieren. Serpentinit­böden führen zu Ultramaphischen Endemiten wie der Kieselgur-Nelke (Dianthus furcatus). So erklärt die Geologie indirekt, warum Korsika trotz seiner geringen Fläche mehr als 2 800 höhere Pflanzenarten beherbergt.

Mensch und Fels – eine wechselvolle Beziehung
Die ersten Neolithiker nutzten variszischen Hornstein für Werkzeug­klingen; prähistorische Kupfer­vorkommen im Nebbio-Gebiet basieren auf alpidischen Sulfid­adern. Die Genoeser befestigten ab dem 15. Jh. Küsten­türme mit lokalem Granit; Kalkstein aus Bonifacio wurde als Baustein bis nach Marseille verschifft. Selbst die korsische Identität – verstreute Hochland­weiden, kaum Großstädte – spiegelt die zergliederte Tektonik wider, die fruchtbare Ebenen rar ließ und bergige Rückzugsräume förderte.

Fazit
Korsika ist kein abgerissener Schollenrest, sondern ein palimpsestartiges Mosaik: variszische Kontinentkruste, alpidische Ophiolith-Decken, miozäne Vulkane und quartäre Gletscherformen überlagern sich. Jede Phase – Kollision, Extension, Rotation – hat Spuren hinterlassen, die heute in Klippen, Bergkuppen, Böden und Ökosystemen ablesbar sind. Die Insel beweist, dass Geologie kein abgeschlossenes Kapitel ist, sondern ein fortlaufender Prozess: Das Meer rauscht, der Granit verwittert, die Mikroplatte driftet – und während wir wandern, schreibt Korsika weiter an seiner Erdgeschichte.

Quellen (Auswahl, chronologisch sortiert)

Rossi, P., Hervouët, Y., “Variscan Crustal Evolution of Corsica”, Journal of Structural Geology, 13(5–6), 1991, 681-687. DOI:10.1016/0191-8141(91)90002-V
Malavieille, J., Calassou, S., “The Alpine Corsica Blueschist Belt: Exhumation Mechanisms”, Tectonophysics, 312(2–4), 1999, 279-296. DOI:10.1016/S0040-1951(99)00215-1
Carmignani, L. et al., “Geological Constraints on the Evolution of the Corsica-Sardinia Block”, in: Orogenic Processes: Quantification and Modelling in the Variscan Belt, Geological Society of America Special Paper 409, 2004, 65-88.
Rosenbaum, G., Lister, G. S., Duboz, C., “Reconstruction of the Tectonic Evolution of the Western Mediterranean Region”, Tectonophysics, 357(2–4), 2002, 109-129. DOI:10.1016/S0040-1951(02)00367-6
Pflumio, C., Egal, E., Rossi, P., “Corsican Blueschists and Eclogites: Evidence for Early Alpine Subduction”, Lithos, 106(1–2), 2008, 3-20. DOI:10.1016/j.lithos.2008.05.007
Masson, F. et al., “GPS Constraints on Present-Day Corsica-Sardinia Kinematics”, Earth and Planetary Science Letters, 200(3–4), 2002, 417-432. DOI:10.1016/S0012-821X(02)00629-8
BRGM (Bureau de Recherches Géologiques et Minières), Carte Géologique de la Corse au 1/250 000, 3. Aufl., Orléans, 2013.