Wer heute an Korsika denkt, sieht wilde Bergkämme, duftende Macchia und eine eigensinnige Inselkultur. Ein zentraler – oft unterschätzter – Baustein dieser Identität ist das fast 650-jährige Kapitel genuesischer Herrschaft. Vom ersten Fußfassen im 12. Jahrhundert bis zur endgültigen Abtretung an Frankreich 1768/69 prägte die Seerepublik Genua mit ihren Kaufleuten, Bankiers, Beamten und Soldaten nahezu jede Facette korsischer Wirklichkeit: Küstenschutz, Landwirtschaft, Handel, Kirchenorganisation, ja sogar die Rebellionskultur. Die folgende Zeitreise rekonstruiert die wichtigsten Etappen – politisch, wirtschaftlich, sozial – und fragt nach dem Vermächtnis, das die „Signoria di Genova“ hinterlassen hat.
Pisa gegen Genua: Wettstreit um den Tyrrhenischen Raum (ca. 1050–1299)
Im Hochmittelalter waren Pisa und Genua die aufstrebenden Seemächte des westlichen Mittelmeers. Beide betrieben Stützpunkte auf Korsika, nutzten aber unterschiedliche Machtinstrumente: Pisa setzte auf Bischofssitze und Grundbesitz, Genua auf Handelsprivilegien und Seefestungen. 1133 erhob Papst Innozenz II. Genuas Erzbistum zum Metropoliten der Insel – ein symbolischer, aber entscheidender Schritt. Dennoch blieb Pisa bis zur Seeschlacht von Meloria (1284) militärisch dominierend. Erst nach Pisas Niederlage konnte Genua in systematischer Weise Konsuln und Podestà auf Korsika einsetzen und sich 1299 vertraglich die Oberhoheit sichern.
Die Maona und die Erfindung des „privatisierten Kolonialismus“ (1347–1453)
Genua war chronisch finanzschwach, aber reich an unternehmerischer Fantasie. Um die oft rebellische Insel effizient auszubeuten, übertrug der Comune 1347 Verwaltung und Steuerpacht an eine Gesellschaft von Kaufleuten, die Maona di Corsica e di Cipro. Die Investoren stellten Militär, bauten Häfen (z. B. Calvi) und sollten aus Zöllen, Salz- und Korallrenten profitieren. Die Konstruktion erinnert an spätere Handelskompanien wie die English East India Company. Doch der Profit blieb hinter den Erwartungen zurück; häufiger Aufruhr und die Pest von 1381 ließen die Maona 1453 bankrottgehen.
Die Bank von San Giorgio: Finanzmacht als Territorialherr (1453–1562)
Nach der Insolvenz sprang Genuas mächtige Staatsbank, der Banco di San Giorgio, ein – ein einzigartiger Fall „finanzierter Souveränität“. Die Bank vergab Kredite an den Stadtrat und durfte dafür Korsika als Pfand verwalten. Sie entsandte Gouverneure (Commissari), zog Zehnten ein und gründete 1487 Bastia als neue Hauptstadt, strategisch auf einem Felsvorsprung gegenüber dem toskanischen Festland. Unter San-Giorgio-Regie entstanden auch die berühmten Küstentürme – über achtzig zwischen 1530 und 1620 –, die Handelsschiffe mit Fackelsignalen vor nordafrikanischen Korsaren warnen sollten.
„Pani di castagna“ und die Transformation der Agrarökonomie
Abseits der Küsten entwickelte die Bank eine „billige“ Sozialpolitik: Sie verteilte in großem Stil Kastaniensetzlinge, weil Kastanienmehl – pannette – als Grundnahrungsmittel den Import von Getreide senkte. Die Castagniccia-Region wurde zum Brotkorb der Insel; noch heute erzählt das Landschaftsmosaik aus Kastanienhainen von diesem genuesischen Agrarprojekt. Gleichzeitig verpachtete die Obrigkeit Salinen (Porto-Vecchio), Korallenfischerei (Ajaccio-Golf) und Bergbau (silberhaltiger Bleiglanz bei Argentella).
Der „langen Aufstand“ und die Figur Sampiero Corso (1562–1569)
1562 endete das San-Giorgio-Experiment; der Comune übernahm wieder selbst. Doch der nationale und konfessionelle Kontext hatte sich verändert: Habsburger, Valois und das Osmanische Reich rangen um das westliche Mittelmeer. 1553 landete eine französisch-osmanische Flotte, besetzte kurzzeitig fast die ganze Insel und hob Sampiero Corso, einen korsischen Söldner in französischen Diensten, als Statthalter aus der Taufe. Zwar fiel Korsika 1559 durch den Frieden von Cateau-Cambrésis an Genua zurück, doch Sampieros Guerilla inspiriert bis heute den Mythos des unbeugsamen „Corsu ribellu“.
Von Revolte zu Revolte: die Krise der Signoria (17.–18. Jahrhundert)
Genuas Verwaltung blieb dünn: 15 Beamte in Bastia „regierten“ 280 000 Insulaner, gestützt auf Lehensherren (caporali), die Tribute in Naturalien entrichteten. Überhöhter Zehnten, strenge Holzexportverbote und das Monopol auf Salz vergrößerten die Unzufriedenheit. 1729 entzündete eine neue Steuer auf Feigen (!) einen Flächenbrand: Burgen wurden gestürmt, Patrouillen überfallen. Paris und Wien nahmen Anteil, denn Korsikas Wälder lieferten Schiffsmasten – ein strategisches Gut. 1736 setzte der westfälische Abenteurer Theodor von Neuhoff in Aléria an und ließ sich von aufständischen Caporali zum „König Theodor I.“ krönen; eine Episode voll exotischer Symbolik, aber symptomatisch für die Genua-Krise.
Pasquale Paoli und das Ende der genuesischen Präsenz (1755–1769)
Unter dem jungen Kapitän Pasquale Paoli erreichte der Unabhängigkeitskampf institutionelle Reife. Basierend auf einem Verfassungsentwurf (Costituzione di Corte, 1755) entstand eine gewählte Consulta, eine Nationalgarde und die erste Hochschule in Corte. Genua, militärisch ausgelaugt und intern von Adelsfraktionen gelähmt, suchte Schutz beim Bourbonen-Frankreich. Mit dem Vertrag von Versailles (1768) trat die Republik ihre „Bastion Korsika“ als Pfand ab, behielt nominell die Souveränität, hoffte aber auf französische Bajonette. Ein Jahr später siegte Frankreich bei Ponte Novu; die letzten genuesischen Beamten verließen Bastia im September 1769. Genua selbst sollte 1797 im napoleonischen Sturm verschwinden.
Vermächtnis: Türme, Toponyme, Mentalitäten
Obwohl die genuesische Herrschaft oft als „Kolonialjoch“ erinnert wird, hat sie tiefe, ambivalente Spuren hinterlassen:
• Architektur: Die Torri di Corsica – von Capo Corso bis Bonifacio – sind UNESCO-Anwärter und Ikonen des Inselpanoramas.
• Sprache: Korsisches Vokabular enthält hunderte ligurische Lehnwörter (bancalari = Maurer, braghi = Hose).
• Recht: Das Statuto di Corte (1755) übernahm römisch-genuesische Institute wie „comunanza“ (Allmendnutzung).
• Kulinarik: Kastanienbrot, Brocciu-Käse in Focaccia-Varianten, Vin de Muscat – vieles wurzelt in genuesischen Agrarinitiativen.
• Widerstandskultur: Vom Mythos Sampiero bis zu Paolis republikanischer Ikonographie – die Identität „gegen eine externe Signoria“ prägte das politische Selbstbild der Korsen bis in die Gegenwart.
Schlussgedanke
Die Geschichte der Genuesen auf Korsika ist kein schlichtes Narrativ von Unterdrückern versus Unterdrückten. Sie ist ein Laboratorium frühmoderner Staatlichkeit: privatisierte Kolonialgesellschaften (Maona), fiskalische Territorialbanken (San Giorgio), asymmetrische Gewaltarrangements (Caporali), aber auch technische Innovationen (Küstentürme, Kastanienkulturen). So erklärt sich, warum Korsika bis heute weder rein französisch noch rein italienisch wirkt, sondern als vielschichtiger Kulturraum, der in seinen Steinen, Wörtern und Erinnerungen ein halbes Jahrtausend Genueserfahrung speichert.
Quellen und weiterführende Literatur