7. August 2025
7. August 2025
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Die Menschen Korsikas – Identität zwischen Macchia, Migration und Moderne

„Nous ne sommes ni tout à fait Français, ni tout à fait Italiens, nous sommes Corses“, schrieb der Schriftsteller Marc Biancarelli 2012. Wer die 8 722 km² große Insel besucht, spürt rasch, dass ihre Bewohner ein starkes, aber vielschichtiges Wir-Gefühl haben. Es speist sich aus jahrhundertealter Bergbauernkultur, aus kolonialen Einflüssen Genuas und Frankreichs, aus Ab- und Rückwanderung sowie aus aktuellen Zuzügen. Ein Blick auf Demografie, Sprache, Sozialstrukturen und Mentalität zeigt, warum Korsen zugleich traditionsbewusst und erstaunlich wandlungsfähig sind.

  • Demografische Kontraste: Insel und Diaspora
    Auf Korsika leben heute 349 000 Menschen (INSEE 2023), etwas weniger als in Nizza. Auffällig ist der Altersaufbau: 31 % sind über 60 Jahre alt (Frankreich: 26 %), was mit Abwanderung junger Akademiker und einer starken Rentnerzuwanderung vom Festland zusammenhängt. Gleichzeitig existiert eine weit größere „Nation hors-les-murs“: Mindestens 1,1 Millionen Franzosen geben korsische Vorfahren an (Colonna 2018). Bereits im 19. Jh. zog es Weinbauern nach Algerien, Seeleute nach Marseille, Gendarmen in die Kolonialtruppen. Heute lebt fast jeder zweite Inselgeborene außerhalb Korsikas. Migrationsbewegungen gehen aber auch in die andere Richtung: Nach der algerischen Unabhängigkeit 1962 ließen sich rund 18 000 Pieds-Noirs auf Korsika nieder, aktuell stammen 7,4 % der Einwohner aus dem Ausland, vor allem aus Marokko, Portugal und Italien (INSEE 2023b).

  • Sprache und Identität: vom Patois zur Politik
    Das Korsische (corsu) ist ein romanischer Dialektblock mit Verwandtschaft zu Mittelitalienisch. Eine repräsentative Umfrage des Conseil économique, social et culturel de Corse ergab 2013: 43 % verstehen die Sprache, 26 % sprechen sie fließend, vor allem über 50-Jährige. Nach jahrzehntelanger Verdrängung durch das Französische erlebt corsu seit den 1980er-Jahren eine Renaissance: zweisprachige Ortsschilder, optionale Schulstunden (40 % der Grundschüler) und eine tägliche Nachrichtensendung auf France 3 ViaStella. Zugleich ist Sprache ein politisches Symbol: Für die separatistische Partei Corsica Libera ist Corsu Ausdruck nationaler Souveränität; für gemäßigte Autonomisten eher ein Kulturgut ohne Staatsanspruch.

  • Sozialstruktur: von der Pieve zum Wohneigentum
    Historisch organisierten sich Korsen in Bergdörfern (pieve), die Viehwirtschaft im Sommer in Hochalmen (monti) und Winterweiden an der Küste kombinierten. Verwandtschaft (parenté) bestimmte Grundbesitz, Heirat und – berüchtigterweise – Blutrache (vendetta), die erst unter französischer Verwaltung ab 1850 abnahm (Vergé-Franceschi 2010). Heute besitzt noch immer 71 % der Bevölkerung Wohneigentum, zumeist im Familienverband vererbt; Frankreichweit liegt der Anteil bei 58 % (INSEE Logement 2022). Gleichzeitig boomen Ferienresidenzen: 37 % aller Gebäude sind Zweitwohnsitze, was Wohnraum in Küstengemeinden verteuert und zu Protesten gegen „bétonnage“ (Verbetonierung) führt.

  • Glaube, Feste, Musik: kollektive Emotionen
    94 % der Korsen sind nominell katholisch; Kirchenfeste strukturieren das Kalenderjahr. Prozessionen wie der Catenacciu von Sartène (Karfreitag) oder San Ghjuvà in Bastia verbinden Liturgie mit volkstümlichen Elementen. Laienbruderschaften (cunfraterne) organisieren Gemeindehilfe und Chorgesang. Letzterer wurde 2009 von der UNESCO als immaterielles Erbe eingestuft: die dreistimmige paghjella, gesungen von Männern in Kirchen und Bars gleichermaßen. Moderne Gruppen wie A Filetta oder I Muvrini exportieren diese Klangkultur international und reflektieren Themen wie Migration oder Umweltzerstörung in korsischer Sprache.

  • Wirtschaft und Alltag: Zwischen Selbstständigkeit und Saisonarbeit
    Die Insel hat die höchste Selbstständigenquote Frankreichs (28 % Erwerbstätige; INSEE 2023c). Viele Familien betreiben Kleinstunternehmen: Agritourismus, Honig- oder Käsemanufakturen, Bootsausflüge. Parallel dazu ist die Wirtschaft stark tourismusgetrieben: Von Mai bis September verdoppelt sich die Bevölkerungszahl, und jeder dritte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt am Besucherstrom. Saisonarbeit bedeutet jedoch auch Prekarität; das Medianeinkommen liegt 12 % unter dem französischen Durchschnitt, während Verbraucherpreise um 4–6 % höher sind (Observatoire des Prix, 2022).

  • Mentalität: Stolz, Misstrauen, Gastfreundschaft
    Wissenschaftler beschreiben einen „insularen Habitus“ (Lozachmeur 2019): starkes Gruppengefühl, Skepsis gegenüber Zentralstaat und Investoren, zugleich ausgeprägte Gastfreundschaft. Historisch bedingte Faktoren – Gebirgsgeographie, Clanstrukturen, Konflikte mit Seemächten – förderten Autarkiestreben und eine orale Konfliktregelung, etwa durch Lamentu (Klagen) oder Improvisationsgesänge. Heute schließen sich Dorfbewohner rasch zusammen, um Straßensperren nach Sturmereignissen zu reparieren oder Kindergartenplätze selbstverwaltet zu organisieren.

Die Bewohner Korsikas sind keine statische Folkloregruppe, sondern ein dynamisches Mosaik aus Alteingesessenen, Rückkehrern, Zugezogenen und Saisonkräften. Was sie verbindet, ist die Erfahrung, auf einer rauen, aber reichen Insel zu leben, deren Zukunft nur gestaltet werden kann, wenn Tradition und Wandel miteinander sprechen. Wer über serpentinige Straßen in ein Bergdorf fährt, lernt schnell: Hinter jedem Granithaus steckt eine Familiengeschichte, hinter jedem korsischen Lied ein kollektives Gedächtnis – und beides ist lebendiger denn je.

Quellen (Auswahl)

  1. INSEE. “Tableaux de l’économie corse 2023.” Paris, 2023.
  2. INSEE. “Immigration et population étrangère en Corse.” Insee Première 1932, 2023b.
  3. INSEE. “Les ménages et leur logement en 2022.” Dossier Corse, 2022.
  4. Colonna, François. La diaspora corse. Ajaccio: Albiana, 2018.
  5. Vergé-Franceschi, Michel. Histoire de la Corse. Paris: Fayard, 2010.
  6. Lozachmeur, Pierre. “Habitus insulaire et comportements économiques.” Revue Méditerranée 132 (2019): 45-62.
  7. Conseil économique, social et culturel de Corse. Enquête sur les pratiques linguistiques, Rapport 2013.
  8. Observatoire des Prix de Corse. Rapport annuel 2022.
  9. UNESCO. “Polyphonic Singing of Corsica (Paghjella).” Intangible Heritage List, 2009.