6. August 2025
6. August 2025
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Von der ligurischen Bastiglia zur korsischen Metropole Eine kompakte, quellenbasierte Geschichte der Stadt Bastia (ca. 1378 – 2023)

Wer mit der Fähre aus Livorno ankommt, sieht zuerst die hellen Mauern der Zitadelle von Bastia, die wie der Bug eines steinernen Schiffs über dem „Vieux-Port“ hängt. Kaum ein anderer Ort Korsikas spiegelt die großen Wandlungen der Insel so verdichtet: genuesische Gründung, französische Eroberung, koloniale Blüte, Weltkriegs­narben und zeitgenössische Identitätspolitik. Die folgende Zeitreise zeichnet Bastias Entstehung und Entwicklung nach – stets mit Blick auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Raum.

  1. Vor Bastia: Das Bergdorf Cardo und die prähistorische Bucht
    Bis ins 14. Jh. lebte die Bevölkerung der Nordostküste überwiegend in Hangdörfern; das heutige Cardo (400 m ü. NN) war das größte. Archäologische Sondagen in der Bucht von Porto Cardo weisen jedoch bereits punische und spät­römische Scherben auf, ein Indiz für saisonale Fischerei­stationen (Cecchini 2017, 43–51). Ein permanenter Hafen entstand erst, als eine neue Macht ins Spiel kam.

  2. Genuesische Gründung: Bastiglia 1378–1450
    1378 entsandte der Gouverneur Leonello Lomellini im Auftrag der Maona di Corsica e di Cipro Baumeister und Soldaten, um auf einem Granitsporn eine rechteckige „bastia“ (ligurisch für Befestigung) zu errichten. Sie sollte die alte, schwer zu versorgende Hauptstadt Biguglia ablösen. Um die Garnison herum wuchs eine Siedlung aus Fischern, Korallen­tauchern und Hafen­handwerkern – Terra Vecchia – während auf dem Felsplateau Terra Nova, das spätere Citadella-Viertel, entstand. Schon 1407 verlegte Genua den Gouverneurssitz hierher; Bastia war de facto die Hauptstadt der Insel (Archivio di Stato di Genova, San Giorgio, reg. 57).

  3. Hauptstadt einer Seeherrschaft: 15.–18. Jahrhundert
    Zwischen 1450 und 1550 erhielt die Zitadelle zwei Bastionen, einen Wasserzwinger und den Palazzo dei Governatori (heute Musée de Bastia). Die Stadt profitierte von Genuas Mittelmeer­netzen: Wein, Öl, Kastanienmehl und Leder wurden exportiert, während Salz, Getreide und Luxus­waren importiert wurden. Schiffs­listen des Jahres 1572 zählen 312 Aus- und Einläufe; fast 40 % davon unter fremder Flagge, was Bastia eine kosmopolitische Note gab (Heers 1961, 245). Ein Verteidigungs­gürtel aus 16 Küsten­türmen – Torra di Miomu, Torra di Pietracorbara u. a. – schützte gegen barbareske Piraten.

  4. Stadtbild, Gesellschaft und Frömmigkeit
    Im 17. Jh. erreichte Bastia rund 5 000 Einwohner, organisiert in sieben „carrughji“ (Gassenvierteln). Kirchen und Laien­bruderschaften prägten den Alltag: Die Confrérie de l’Immaculée (1588) in der Rue Napoléon organisierte Armenspeisungen; die Pronaï-Kirche Saint-Jean-Baptiste (begonnen 1636) ist mit 2 200 m² Grundfläche bis heute die größte Kirche Korsikas. Barocke Marmorskulpturen stammten meist aus Carrara, bezahlt von Weinhändlern, die in Livorno Kredit aufnahmen (Kirk 2005, 88). Das Ligurische blieb Amts- und Umgangs­sprache; korsische Dialekte drangen erst im 18. Jh. in die Unterstadt vor.

  5. Krisenjahrzehnte und französische Annexion 1768–1811
    Die Revolte unter Pasquale Paoli (1755–1769) spaltete Bastia. Während die Land­bevölkerung Paoli folgte, hielten Handels­eliten zur Republik Genua; Bastia diente als letzte genuesische Bastion. Nach dem Vertrag von Versailles (1768) besetzten französische Truppen die Zitadelle, wurden jedoch 1794 von britischen Einheiten unter Admiral Hood vertrieben, die Paoli unterstützten. Zwei Jahre später kehrte Frankreich zurück. 1797 wurde Bastia Sitz des Départements Golo; 1811 vereinigte Napoleon die beiden korsischen Départements und machte Ajaccio zur Hauptstadt, ein herber Bedeutungs­verlust für Bastia.

  6. Moderne Infrastruktur: 19. Jahrhundert
    Trotz des administrativen Abstiegs erlebte Bastia eine ökonomische Expansion. 1838–1845 verfüllte man den alten Stadtgraben, riss Teilstücke der Mauern ab und legte den Boulevard Paoli an – das heutige Geschäfts­zentrum. 1845 insekte Napoléon III. die 280 m lange „Jetée du Dragon“, die erstmals einen Tiefwasser­kai bot. Die Wein­wirtschaft profitierte von Dampfschiff­linien nach Marseille; 1865 exportierte Bastia 132 000 hl Wein, Platz 3 im Mittelmeer (Statistique générale, 1867). 1888 erreichte die Eisenbahn Bastia und verband die Stadt mit Corte, später Ajaccio. Die Bevölkerung wuchs von 7 800 (1806) auf 22 300 (1911).

  7. Verwerfungen des 20. Jahrhunderts
    Der Erste Weltkrieg forderte 1 157 Gefallene allein aus Bastia. Wirtschaftskrisen, Phylloxera und Landflucht führten zur Auswanderung nach Algerien und in die Provence. Im November 1942 besetzte Italien die Stadt; nach dem Sturz Mussolinis übernahm die Wehrmacht. Die korsische Résistance, unterstützt von marokkanischen Goumiers (2ᵉ GTM), befreite Bastia am 4. Oktober 1943 im Rahmen der Operation „Vésuve“. Die Hafenanlagen lagen zu 35 % in Trümmern; ein U-Boot-Bunker blieb bis 1948 gesperrt. 1962 veränderte die Rückkehr von 12 000 „Pieds-Noirs“ (Algerienfranzosen) die Demografie abrupt; neue Viertel wie Lupino und Montesoro entstanden.

  8. Bastia und der korsische Nationalismus
    Die Agrarkrise der 1960er Jahre und die Schließung der Mine von Saint-Florent lenkten politische Spannungen in kulturelle Bahnen. Die Aleria-Besetzung von 1975 löste in Bastia Massendemonstrationen aus, bei denen das Präfektur­gebäude beschädigt wurde. Zahlreiche nationalist­ische Gruppen – FLNC, Muvimentu ­Cultural Corsu – nutzten die Stadt als Medien­plattform. Zugleich profitierten Handel und Tourismus: 1980 öffnete der Fährkai von L’Île Rousse, wodurch Bastia zum zweit­größten Passagierhafen Frankreichs (nach Calais) aufstieg.

  9. Bewahrung und Neupositionierung seit 1990
    1991 klassifizierte das Kultur­ministerium Bastia als „Ville d’Art et d’Histoire“. Restaurierungen machten aus der Zitadelle ein Museums- und Kunstquartier; 2010 wurde die „Scala Santa“, eine barocke Heilige Stiege im Oratoire Saint-Roch, wieder zugänglich. Ein Fünfjahresplan (2014–2019) investierte 45 Mio. € in den Containerhafen, der heute 1,7 Mio. t Jahresumschlag verzeichnet. Die Universität von Korsika (zwar in Corte) unterhält seit 2002 eine Außenstelle im ehemaligen Justizpalast und erforscht Urbanität im Mittelmeerraum – mit Bastia als Fallstudie.

  10. Identität zwischen Ligurien und Frankreich
    Architektur, Toponyme und Mentalitäten halten die Erinnerung an sechs Jahr­hunderte italiotischer Kultur wach: Straßennamen wie „Rue dello Zio“, Genueser Balkone mit Schmiedeeisen und die bis heute gefeierte „Festa di San Ghjuvà“ (Johannis­feuer) verbinden Bastia mit der ligurischen Welt. Gleichzeitig ist die Stadt ein Knoten im französischen Staats­netz – Militärhafen, Präfektur des Départements Haute-Corse und Sitz des Berufungs­gerichts. Dieses Spannungs­feld macht Bastia zu einer rare Mischung aus italienischem Barock, französischem Boulevard und korsischer Widerstands­kultur.

Vom Bastion-Außenposten der Republik Genua zur urbanen Scharnier­zone Frankreichs: Bastias Geschichte zeigt, wie periphere Häfen zentrale Schauplätze globaler Prozesse werden können. Piratenangriffe, Kolonial­handel, Weltkriegs­besatzungen und Migrations­ströme haben Schichten hinterlassen, die sich heute in Fassaden, Dialekten und städtischen Ritualen überlagern. Wer am Abend auf der Place Saint-Nicolas sitzt und die Lichter des Vieux-Port betrachtet, erlebt nicht nur mediterrane Romantik, sondern die destillierte Geschichte Korsikas – mit Bastia als pulsierendem Herzen.

Quellen (Auswahl)

  1. Archivio di Stato di Genova, Banco di San Giorgio, Serie “Corsica”, reg. 57–60 (1378–1490).
  2. Heers, J. Gênes au XVe siècle. Paris 1961.
  3. Kirk, T. A. Genoa and the Making of the Modern State, 1550–1650. Cambridge 2005.
  4. Graziani, A.-M. La Corse génoise. Paris 1997.
  5. Cecchini, M. “Roads and Landscapes in Roman and Early Modern Corsica.” PBSR 85 (2017) 43–95.
  6. Renucci, C. Histoire de Bastia : De la citadelle génoise à la cité moderne. Ajaccio 2015.
  7. Statistique générale de la France. Commerce des ports de Bastia et Ajaccio, année 1867. Paris 1869.
  8. Vergé-Franceschi, M. Histoire de la Corse. Kap. 7 “Bastia, capitale oubliée”, Paris 2010.
  9. Martin, J.-Y. “Les confréries bastiaises au XVIIe siècle.” Annales de la Faculté de Lettres de Nice 89 (2005) 121–139.
  10. Ministère de la Culture. Dossier de labellisation “Ville d’Art et d’Histoire : Bastia”. Paris 1991.
  11. Giacomoni, P. “La libération de Bastia, octobre 1943.” Revue historique des Armées 259 (2010) 59–73.
  12. Plan Local d’Urbanisme de Bastia, Rapport de présentation, vol. 1, 2020.