Wer mit der Fähre aus Livorno ankommt, sieht zuerst die hellen Mauern der Zitadelle von Bastia, die wie der Bug eines steinernen Schiffs über dem „Vieux-Port“ hängt. Kaum ein anderer Ort Korsikas spiegelt die großen Wandlungen der Insel so verdichtet: genuesische Gründung, französische Eroberung, koloniale Blüte, Weltkriegsnarben und zeitgenössische Identitätspolitik. Die folgende Zeitreise zeichnet Bastias Entstehung und Entwicklung nach – stets mit Blick auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Raum.
Vor Bastia: Das Bergdorf Cardo und die prähistorische Bucht
Bis ins 14. Jh. lebte die Bevölkerung der Nordostküste überwiegend in Hangdörfern; das heutige Cardo (400 m ü. NN) war das größte. Archäologische Sondagen in der Bucht von Porto Cardo weisen jedoch bereits punische und spätrömische Scherben auf, ein Indiz für saisonale Fischereistationen (Cecchini 2017, 43–51). Ein permanenter Hafen entstand erst, als eine neue Macht ins Spiel kam.
Genuesische Gründung: Bastiglia 1378–1450
1378 entsandte der Gouverneur Leonello Lomellini im Auftrag der Maona di Corsica e di Cipro Baumeister und Soldaten, um auf einem Granitsporn eine rechteckige „bastia“ (ligurisch für Befestigung) zu errichten. Sie sollte die alte, schwer zu versorgende Hauptstadt Biguglia ablösen. Um die Garnison herum wuchs eine Siedlung aus Fischern, Korallentauchern und Hafenhandwerkern – Terra Vecchia – während auf dem Felsplateau Terra Nova, das spätere Citadella-Viertel, entstand. Schon 1407 verlegte Genua den Gouverneurssitz hierher; Bastia war de facto die Hauptstadt der Insel (Archivio di Stato di Genova, San Giorgio, reg. 57).
Hauptstadt einer Seeherrschaft: 15.–18. Jahrhundert
Zwischen 1450 und 1550 erhielt die Zitadelle zwei Bastionen, einen Wasserzwinger und den Palazzo dei Governatori (heute Musée de Bastia). Die Stadt profitierte von Genuas Mittelmeernetzen: Wein, Öl, Kastanienmehl und Leder wurden exportiert, während Salz, Getreide und Luxuswaren importiert wurden. Schiffslisten des Jahres 1572 zählen 312 Aus- und Einläufe; fast 40 % davon unter fremder Flagge, was Bastia eine kosmopolitische Note gab (Heers 1961, 245). Ein Verteidigungsgürtel aus 16 Küstentürmen – Torra di Miomu, Torra di Pietracorbara u. a. – schützte gegen barbareske Piraten.
Stadtbild, Gesellschaft und Frömmigkeit
Im 17. Jh. erreichte Bastia rund 5 000 Einwohner, organisiert in sieben „carrughji“ (Gassenvierteln). Kirchen und Laienbruderschaften prägten den Alltag: Die Confrérie de l’Immaculée (1588) in der Rue Napoléon organisierte Armenspeisungen; die Pronaï-Kirche Saint-Jean-Baptiste (begonnen 1636) ist mit 2 200 m² Grundfläche bis heute die größte Kirche Korsikas. Barocke Marmorskulpturen stammten meist aus Carrara, bezahlt von Weinhändlern, die in Livorno Kredit aufnahmen (Kirk 2005, 88). Das Ligurische blieb Amts- und Umgangssprache; korsische Dialekte drangen erst im 18. Jh. in die Unterstadt vor.
Krisenjahrzehnte und französische Annexion 1768–1811
Die Revolte unter Pasquale Paoli (1755–1769) spaltete Bastia. Während die Landbevölkerung Paoli folgte, hielten Handelseliten zur Republik Genua; Bastia diente als letzte genuesische Bastion. Nach dem Vertrag von Versailles (1768) besetzten französische Truppen die Zitadelle, wurden jedoch 1794 von britischen Einheiten unter Admiral Hood vertrieben, die Paoli unterstützten. Zwei Jahre später kehrte Frankreich zurück. 1797 wurde Bastia Sitz des Départements Golo; 1811 vereinigte Napoleon die beiden korsischen Départements und machte Ajaccio zur Hauptstadt, ein herber Bedeutungsverlust für Bastia.
Moderne Infrastruktur: 19. Jahrhundert
Trotz des administrativen Abstiegs erlebte Bastia eine ökonomische Expansion. 1838–1845 verfüllte man den alten Stadtgraben, riss Teilstücke der Mauern ab und legte den Boulevard Paoli an – das heutige Geschäftszentrum. 1845 insekte Napoléon III. die 280 m lange „Jetée du Dragon“, die erstmals einen Tiefwasserkai bot. Die Weinwirtschaft profitierte von Dampfschifflinien nach Marseille; 1865 exportierte Bastia 132 000 hl Wein, Platz 3 im Mittelmeer (Statistique générale, 1867). 1888 erreichte die Eisenbahn Bastia und verband die Stadt mit Corte, später Ajaccio. Die Bevölkerung wuchs von 7 800 (1806) auf 22 300 (1911).
Verwerfungen des 20. Jahrhunderts
Der Erste Weltkrieg forderte 1 157 Gefallene allein aus Bastia. Wirtschaftskrisen, Phylloxera und Landflucht führten zur Auswanderung nach Algerien und in die Provence. Im November 1942 besetzte Italien die Stadt; nach dem Sturz Mussolinis übernahm die Wehrmacht. Die korsische Résistance, unterstützt von marokkanischen Goumiers (2ᵉ GTM), befreite Bastia am 4. Oktober 1943 im Rahmen der Operation „Vésuve“. Die Hafenanlagen lagen zu 35 % in Trümmern; ein U-Boot-Bunker blieb bis 1948 gesperrt. 1962 veränderte die Rückkehr von 12 000 „Pieds-Noirs“ (Algerienfranzosen) die Demografie abrupt; neue Viertel wie Lupino und Montesoro entstanden.
Bastia und der korsische Nationalismus
Die Agrarkrise der 1960er Jahre und die Schließung der Mine von Saint-Florent lenkten politische Spannungen in kulturelle Bahnen. Die Aleria-Besetzung von 1975 löste in Bastia Massendemonstrationen aus, bei denen das Präfekturgebäude beschädigt wurde. Zahlreiche nationalistische Gruppen – FLNC, Muvimentu Cultural Corsu – nutzten die Stadt als Medienplattform. Zugleich profitierten Handel und Tourismus: 1980 öffnete der Fährkai von L’Île Rousse, wodurch Bastia zum zweitgrößten Passagierhafen Frankreichs (nach Calais) aufstieg.
Bewahrung und Neupositionierung seit 1990
1991 klassifizierte das Kulturministerium Bastia als „Ville d’Art et d’Histoire“. Restaurierungen machten aus der Zitadelle ein Museums- und Kunstquartier; 2010 wurde die „Scala Santa“, eine barocke Heilige Stiege im Oratoire Saint-Roch, wieder zugänglich. Ein Fünfjahresplan (2014–2019) investierte 45 Mio. € in den Containerhafen, der heute 1,7 Mio. t Jahresumschlag verzeichnet. Die Universität von Korsika (zwar in Corte) unterhält seit 2002 eine Außenstelle im ehemaligen Justizpalast und erforscht Urbanität im Mittelmeerraum – mit Bastia als Fallstudie.
Identität zwischen Ligurien und Frankreich
Architektur, Toponyme und Mentalitäten halten die Erinnerung an sechs Jahrhunderte italiotischer Kultur wach: Straßennamen wie „Rue dello Zio“, Genueser Balkone mit Schmiedeeisen und die bis heute gefeierte „Festa di San Ghjuvà“ (Johannisfeuer) verbinden Bastia mit der ligurischen Welt. Gleichzeitig ist die Stadt ein Knoten im französischen Staatsnetz – Militärhafen, Präfektur des Départements Haute-Corse und Sitz des Berufungsgerichts. Dieses Spannungsfeld macht Bastia zu einer rare Mischung aus italienischem Barock, französischem Boulevard und korsischer Widerstandskultur.
Vom Bastion-Außenposten der Republik Genua zur urbanen Scharnierzone Frankreichs: Bastias Geschichte zeigt, wie periphere Häfen zentrale Schauplätze globaler Prozesse werden können. Piratenangriffe, Kolonialhandel, Weltkriegsbesatzungen und Migrationsströme haben Schichten hinterlassen, die sich heute in Fassaden, Dialekten und städtischen Ritualen überlagern. Wer am Abend auf der Place Saint-Nicolas sitzt und die Lichter des Vieux-Port betrachtet, erlebt nicht nur mediterrane Romantik, sondern die destillierte Geschichte Korsikas – mit Bastia als pulsierendem Herzen.
Quellen (Auswahl)