Skip to content
10. Juni 2025
10. Juni 2025
21:29

Gewitter auf dem Bavella

Vor zwanzig Jahren etwa war ich mit einem guten Freund am kleinen Parkplatz unterhalb des Bavella-Massivs angekommen. Damals war der Parkplatz noch viel kleiner und überschaubarer. Also los.  Kaum gestartet, legten wir die ersten Meter über Geröllfelder zurück – Geröll in allen Größenklassen. Ganz ehrlich: Es war einfach, aber anstrengend. Jeder Schritt polterte unter den Wanderstiefeln, und du spürst, wie deine Oberschenkel plötzlich der Meinung sind, es gäbe keinen Morgen mehr.

Nach einer halben Ewigkeit tauchten wir zwischen den ersten Türmen auf, ragende Nadeln aus scharfem Granit, bis zu 1 846 Meter hoch. Da haben wir erst einmal die Trinkflaschen ausgepackt, lauwarmes Wasser getrunken und schauten ehrfürchtig aufs Felsensemble. Mein Freund, das pure Staunen im Gesicht, sagte nur: „Mann, so was hab ich noch nie gesehen!“ Ich hingegen grinste breit, denn ich war ja schon mit Gruppen x-mal hier oben.

Trotz meiner Erfahrung drängte ich ein wenig. Am Horizont türmten sich schon fiese Gewitterwolken auf, tiefgrau wie eine schlechte Laune. Du weißt ja auf Korsika nie genau, wann ein Sommertief einfach um die Ecke kommt. Also: weiter!

Stück für Stück wanderten wir uns zwischen den Türmen vorwärts, immer weiter. Immer wenn mein Freund innehielt, atmete ich tief den würzigen Duft von Lärchen und Pinien ein: ein echter Natur-Parfümladen. Er klebte an den Kanten, staunte über schroffe Wände, die den Himmel zu umarmen schienen, und ich erklärte mit spöttisch-ernster Miene fast jede Ader im Fels, als wäre ich Bergbau-Professor.

Doch je weiter wir vordrangen, desto näher kroch das Unwetter. Erst zuckten Blitze weit unter uns im Wolkenmeer, dann grollte ein Donner, der uns beide zusammenzuckte. Wir tauschten einen Blick: „Umkehren? Vielleicht schneller…“

Gesagt, getan. Doch als wir den Rückweg antraten, kam ein beachtliches Lüftchen aus dem Tal hochgekrochen. Es fegte uns um die Ohren, als wolle die Korsen-Göttergarde uns testen. In der Ferne sahen wir Regentropfen, die sich wie ein schimmernder Vorhang bewegten. Sekunden später standen auch wir im Regen – und ich bin kein Fan von spontanen Nassduschen.

Wir versuchten nicht, uns unterzustellen, weil unser Parkplatz schon nah war. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Sprint in Zeitlupentempo, die Stöcke schlugen im Takt des Donners auf den Boden. Gerade als wir dachten, wir hätten es fast geschafft, blieb mein Freund stehen. Er: „Ein Souvenir muss mit!“, und verschwand ein paar Meter wieder den Hang hinauf.

Sekunden später hörte ich ein „Ah, der ist perfekt!“ – gefolgt von einem grellen Blitzschlag, der in den Nachbarfels einschlug. Mein Freund ließ den Stein fallen, lief kreidebleich an, stolperte rückwärts, blieb stehen und murmelte: „Ja ja, ich geb ihn ja wieder her…“ Ich schwöre, ich hab noch nie einen Menschen so schnell Richtung Parkplatz rennen sehen!

Völlig durchnässt, aber unversehrt, kamen wir am Auto an. Die Jacken tropften, unsere Witze waren etwa so trocken wie Korsikas Flussbetten im Hochsommer, aber wir lachten. Über den Blitzeinschlag, über den verrückten Souvenir-Diebstahl und darüber, dass uns Mutter Natur eine Lektion im Hinblick auf Respekt erteilt hat.

Seitdem lass ich lieber die Finger von Felsbrocken und bewundere sie von unten – der Berg bleibt der Chef. Und wenn du das nächste Mal auf Bavella unterwegs bist: pass auf, dass du kein Souvenir klaust.