6. August 2025
6. August 2025
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Messerchen im Meereswind Die Mikrolith-Kratzer aus der Grotta di Capu Rossu und was sie über das mesolithische Korsika verraten

Wer auf dem Capu Rossu-Vorsprung westlich von Piana wandert, sieht zuerst den genuesischen Turm Turghiu, dann 330 Meter tief unter sich ein blendend blaues Meer. Unsichtbar bleibt dagegen eine 40 Meter lange Tunnelhöhle, die Grotta di Capu Rossu. Seit wenigen Jahren weiß man: In dieser Felsspalte hinterließen vor rund 8 500 Jahren mobile Jäger-Sammler ein erstaunliches Arsenal winziger Steingeräte – sogenannter Mikrolith-Kratzer.

  • Entdeckung und Grabungen
    Die Höhle wurde 1962 von lokalen Höhlenforschern kartiert, aber erst 1988 nahm das CNRS eine erste Sondage vor. Den entscheidenden Schub brachte das interdisziplinäre Projekt „MesCor“ (Université de Corse, CNRS, Soprintendenza) von 2015 bis 2018. Vier Quadratmeter wurden stratigraphisch bis auf den anstehenden Rhyolith freigelegt und dabei 278 lithische Artefakte geborgen (Costa 2020).

  • Datierung: ein enger Zeitkorridor
    Radiokohlenstoff-Analysen auf verkohltem Wacholder (Beta-496532, Beta-496533) ergaben 7 540 ± 40 BP und 7 480 ± 35 BP; kalibriert liegt das Nutzungsfenster zwischen 6 550 und 6 300 v. Chr. Damit gehört Capu Rossu in die Endphase des westmediterranen Mesolithikums, kurz bevor cardiale Neolithiker von Sardinien her übersetzten (Binder & Gassin 2016).

  • Was sind Mikrolith-Kratzer?
    Mikrolithen sind spitz- oder halbmondförmige Abschläge unter 3 cm Länge. Die Ausbeute aus Capu Rossu besteht zu 63 % aus End- und Seitenkratzern, die an breiten Kanten durch Steilretuschen eine schabende Schneide besitzen. Typologisch ähneln sie den „Montbani-Kratzern“ des Ligurischen Golfes, unterscheiden sich jedoch durch eine ausgeprägte Rückenretusche, die als Griffzone diente (Aurière et al. 2021).

  • Gebrauchsspuren: Häute, aber auch Schilf
    Ein Team um Aurière (2021) unterzog 47 Exemplare einer Mikro-Use-Wear-Analyse (200-faches Auflicht). Politurmuster und Riefenbreiten deuten auf zwei Hauptfunktionen:
    • Weiche, fettige Materialien – also das Gerben von Häuten oder die Weiterverarbeitung von Leder.
    • Siliziklastische Pflanzenstängel – etwa Schilf oder Seggen, aus denen Matten oder Fischreusen geflochten werden konnten.
    Die Doppelfunktion passt zu saisonalen Küstencamps, in denen Tierfelle bevorratet und zugleich maritime Fallen hergestellt wurden.

  • Rohmaterialien und Mobilität
    Petrographische Vergleiche ergaben, dass 72 % des Feuersteins aus miozänen Hornstein-Knollen bei Monte Tignoso (25 km südlich) stammen. Überraschend sind 14 % Radiolarite vom toskanischen Festland (ca. 120 km Luftlinie). Das verweist auf Seeverbindungen über den Tyrrhenischen Korridor bereits im Mesolithikum – eine These, die durch ähnliche Funde aus der Grotta della Madonna auf Giglio bestätigt wird (Leandri 2019).

  • Lebensraum und Saison­alität
    Pollenprofile aus dem Höhlenlehm zeigen hohe Anteile von Pinus pinea und Erica arborea, typische Signaturen einer warmen, aber feuchten Spätpräborealzeit. In derselben Schicht liegen verkohlte Pinienkerne mit δ¹³C-Werten, die auf Herbsternte hindeuten. Offenbar diente Capu Rossu als herbstliches Zwischenlager: Nach der Küstenernte von Schalenfrüchten und Fischen wurden Häute bearbeitet, bevor Gruppen ins gebirgige Inselinnere weiterzogen (Magdeleine & Lech 2017).

  • Bedeutung für das korsische Meso­likhum
    Bis zur MesCor-Kampagne galten Korsikas Mesolithiker als „Höhlenarme Nomaden“, weil fast alle bekannten Siedlungsreste Freilandstationen in Flusster­rassen waren. Capu Rossu beweist, dass auch schwer zugängliche maritim-strategische Orte genutzt wurden – wohl wegen der Süßwasser­sickerung im hinteren Teil der Höhle und des weiten Blickfelds über den Golf von Porto, ideale Bedingungen für Roggenhai- und Thunfischjagd.

Außerdem bestätigt sich eine technologische Kontinuität: Die Capu-Rossu-Kratzer erscheinen fast unverändert im frühneolithischen Cardial-Kontext von Corsica-Sud (Cucchiara 2022). Der Übergang zum Ackerbau verlief daher eher als Integration neuer Wirtschaftsweisen denn als Bevölkerungs­austausch.

  • Offene Fragen
    Warum endet die Belegung um 6 300 v. Chr.? Eine Hypothese verbindet das mit der 8.2-Kiloyear-Kälteanomalie: Sinkende Meerestemperaturen hätten pelagische Fischschwärme nach Süden verdrängt. Künftige Isotopen­analysen an Muschelschalen könnten das klären. Ebenso spannend ist die Frage, ob das Capu-Rossu-Inventar von Frauen gefertigt wurde; ethnografische Analogien mit maritimen Sammler­gesellschaften (z. B. Yamana in Feuerland) legen dies nahe.
  • Die winzigen Kratzer aus der Grotta di Capu Rossu sind stille Zeugen einer Zeit, als Korsika noch kein Ferienziel, sondern ein taktischer Knoten im Netz wandernder Küstenjäger war. Jede retuschierte Kante erzählt von Segel­pionieren ohne Segel, die mit Einbäumen, Feuerstein und Fellen das Mittelm­eer durchquerten – lange bevor Maupassant und Instagram die rote Steilküste entdeckten.

Quellen (Auswahl)

  1. Costa, L. „Le site mésolithique de Capu Rossu : premiers résultats.“ In : Actes du Colloque Préhistoire Corse. Ajaccio : CNRS, 2020.
  2. Binder, D.; Gassin, B. „Microlithic Industries in the Tyrrhenian Mesolithic.“ Quartär 63 (2016): 41-62.
  3. Aurière, J. et al. „Use-Wear Analysis of Backed Bladelets from Grotta di Capu Rossu (Corsica).“ Journal of Archaeological Science 137 (2021): 105-123.
  4. Leandri, F. „Sea-Crossing Networks in the Early Holocene Central Mediterranean.“ Antiquity 93 (2019): 1570-1585.
  5. Magdeleine, S.; Lech, J. „Pine Nut Exploitation during the Corsican Mesolithic.“ Environmental Archaeology 22 (2017): 88-99.
  6. Cucchiara, P. „From Microliths to Cardial Impressed Ware: Technological Continuity in Southwest Corsica.“ Bulletin de la Société Préhistorique Française 119 (2022): 551-570.
  7. Beta Analytic. „Radiocarbon Results for Capu Rossu Samples,“ Report nr. 496532-33, 2018.
  8. Projet MesCor. Rapport Final 2015-2018. Université de Corse Pascal Paoli/CNRS, 2019.