6. August 2025
6. August 2025
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“Macchie, Marmorneien und Mehrstimmigkeit” Eine Zeitreise durch die Musik- und Gesangsgeschichte Korsikas

Wer zum ersten Mal spätabends durch ein Bergdorf wie Pigna oder Sermanu fährt, hört mit etwas Glück drei Männerstimmen, die sich in Quint- und Quartschritten umeinanderschlingen. Dieser archaisch wirkende Klang, die paghjella, bildet nur die oberste Schicht einer vielschichtigen Musikgeschichte, die von bronzezeitlichen Knochenflöten bis zu samplergestützten Elektropop-Tracks reicht. Der folgende Beitrag zeichnet die wichtigsten Entwicklungs­linien nach, ordnet sie kulturhistorisch ein und zeigt, warum Gesang auf Korsika mehr ist als Folklore – nämlich eine tragende Säule kollektiver Identität.

  1. Vor-Römische Fragmente und kirchliche Monodie
    Archäologische Funde geben nur punktuelle Hinweise: Auf dem Capu d’Orto wurde 1997 ein 18 cm langer tibia-Knochen mit Tonlöchern geborgen (Cecchini 2017), datiert auf das 8. Jh. v. Chr. Phönizische Keramik in Aleria enthält Darstellungen von Rahmen­trommeln, ähnlich denen im heutigen “tamburinu”. Klare Aussagen zum Klang dieser Frühzeit sind unmöglich, doch die Objekte belegen eine alte Praxis des gemeinschaft­lichen Musizierens.
    Konkreter wird es im Hochmittelalter. Mit den pisanisch-genuesischen Diözesen (11.–13. Jh.) erreichte der römische Cantus planus die Insel: in lateinischer Liturgie, notiert ab 1270 im Graduale „Codex de Mariana“. Anders als in Burgund oder Köln blieb dieser Gesang einstimmig; Mehrstimmigkeit galt lange als „luxushaft“ und liturgisch suspekt (Lortat-Jacob 1998: 17).

  2. Vom Glockenturm in die Macchia: Geburt der paghjella (15.–17. Jh.)
    Zwischen 1450 und 1600 transformierte sich das korsische Dorf von einer feudalen Genueser Enklave zum halbautonomen „comunità“ mit eigener Bruderschaft (cunfraterna). In diesem Kontext entstand die paghjella: drei Männerstimmen (bassu, secunda, terza) ohne Instrument, die parallelorganumartige Quint- und Quart­gänge, aber cadentiale Terz-Septimen-Reibungen präsentieren. Textlich wechseln geistliche lateinische Formeln („Kyrie, Christe“) und weltliche Strophen auf korsisch-ligurischem Misch­idiom. Ethnomusikologen sehen darin ein „Gegenmodell“ zur hierarchischen Liturgie Roms: Horizontal statt vertikal, improvisiert statt fixiert (Nattiez 2012).

  3. Klangwerkzeuge der Insel: cetera, caramusa & Co.
    Gleichzeitig entwickelte sich eine eigenständige Instrumental­kultur:
    • Cetera corsa – eine 16-saitige Cittern-Variante mit metallenen Doppelsaiten, erstmals 1557 in einem Steuer­inventar von Bastia erwähnt (Della Chioma 2016).
    • Caramusa – eine Dudelsackform aus Ziegenhaut und Stockflöte, verwandt mit der galizischen gaita; diente Hirten als Solobegleitung.
    • Pirula und pivana – Rohrblatt­instrumente, wobei die pivana aus Adler­knochen gefertigt sein konnte.
    Diese Instrumente begleiteten vor allem ländlerische Tanzformen wie „moresca“ und „quadrille“, die Genueser Offiziere auf die Insel brachten und die sich im 18. Jh. mit lokalen Reigen mischten (Lucas 2004).

  4. Lamenti, Voceri und die Stimme als politisches Medium (18.–19. Jh.)
    Mit der Paoli-Revolte (1755–1769) und den anschließenden französischen Eingriffen rückte der Gesang ins Zentrum politischer Kommunikation. Die “voceri” – klagende, teils improvisierte Toten­klagen, meist von Frauen vorgetragen – dienten gleichzeitig als Nachrichten­kanal für Blutrachefälle und soziale Kritik. Ein berühmtes Beispiel ist das Voceru della Signora di Nonza (1790), das den Mord an einem Jakobiner beschreibt. In derselben Zeit entstanden „banditelli“, Lieder der Maquis-Banditen, die Verbannung, Rache und Freiheits­sehnsucht thematisierten.
    Der 19. Jh.-Imperialismus brachte außerdem Blas­kapellen (fanfares) in die Küsten­städte. Marschmusik nach französischem Vorbild verdrängte zeitweise die cetera aus Hochzeits­feiern, während Opern­melodien von Donizetti und Verdi in Salons von Bastia erklangen.

  5. Krisen und Rückzug: 1900–1950
    Ab 1900 verlor die Insel 40 % ihrer ländlichen Bevölkerung durch Auswanderung nach Algerien und Südfrankreich. Chorische Traditionen litten doppelt: weniger Sänger im Dorf und ein Klerus, der polyphone Weltliches als „dämonisch“ brandmarkte (Diözesan­dekret von Ajaccio, 1927). 1943 schließlich rissen deutsche Besatzungs­truppen 21 Kirchtürme als Artillerie­observatorien ab – ein empfindlicher Schlag für die akustisch-symbolische Infrastruktur. Dennoch wurden in denselben Jahren auch die ersten wissenschaftlichen Aufnahmen gemacht: Der Ethnomusikologe Henri Pourtau nutzte 1944 eine mobile Edison-Walzen­maschine im Niolu-Gebirge; die Walzen lagern heute im Musée de l’Homme, Paris.

  6. Revival, Weltmusik und UNESCO-Schutz (1960–1990)
    Die Agrarkrise der 1960er, das Erstarken des korsischen Autonomie­diskurses und internationale Folk-Trends katalysierten eine Widergeburt. Schlüssel­daten:
    1969 – Gründung der Gruppe Canta u Populu Corsu, die traditionelle Melodien mit politischen Texten („E Nazioni“) koppelte.
    1979 – Festival Festivoce in Pigna, erstes Podium für Dorf-Chöre und Jazz-Crossover.
    1981 – Claude Flagel veröffentlicht die Doppel-LP „Polyphonies de Corse“, ein Meilenstein der World-Music-Szene.
    1986 – I Muvrini erreichen mit „Pè l’amore di tè“ Goldstatus in Frankreich und öffnen die Inselklänge einem Massen­publikum.
    1989 – A Filetta experimentiert mit Renaissance-Modalität und Minimal Music.
    Parallel dazu professionalisiert sich die Forschung: Bernard Lortat-Jacob publiziert seine Langzeit­studie „Aux sources de la voix corse“ (1998), Jean-Jacques Nattiez untersucht die semiotische Dimension. Der Höhepunkt: 2009 nimmt die UNESCO die paghjella in die Liste des immateriellen Welt­erbes auf – allerdings als „gefährdet“, weil weniger als 1 000 aktive Träger verblieben.

  7. Digitaler Spagat und neue Klangallianzen (1990–2023)
    Seit den 1990ern docken korsische Stimmen an globale Genres an:
    • Jazz: Der Trompeter Paolo Fresu produziert „Mistico Mediterraneo“ mit A Filetta – polyphone Cluster über modale Harmonie.
    • Elektronica: DJ R. Lemac samplet Voceri-Fragmente in „Corsica Dub Sessions“.
    • Klassik: Der Bariton Jean-François Bastianelli singt paghjella-Fassungen von Monteverdi-Madrigalen.
    Dennoch bleibt die Dorf­praxis zentral. Neue Initiativen wie „Scola di cantu“ (Corte) lehren Kinder ab fünf Jahren traditionelle Mehrstimmigkeit, während die Kirchen nach dem Motu proprio „Tra le Sollecitudini“ (2011) wieder korsische Sprachen im Gottesdienst zulassen. Außerdem bilden sich erstmals gemischte und reine Frauen-Ensembles (Donne di Ghjuventù), was ein lange von Männern dominiertes Genre erweitert.

  8. Stilistische DNA – Warum korsischer Gesang so klingt, wie er klingt
    • Mikro­intervallik: Bassu und secunda drücken Leit-Töne oft um 30–40 Cent tiefer als die temperierte Terz, was einen „schwebenden“ Klang erzeugt (Lortat-Jacob 1998).
    • Hetero-Textur: Stimmen setzen nacheinander ein (Stile chiamà) und verdichten sich zu blockhaften Klang­ballungen.
    • Sozio-Akustik: Die Kirchen des 16./17. Jh. mit Kalkstein­gewölben liefern Nachhall von 2–3 Sekunden – ideal für modale Halte­töne.
    • Oralität: Melodien sind nicht fixiert, sondern werden mit minimalen Varianten überliefert; der „Fehler“ gilt als kreative Freiheit.

In kaum einer Region Europas ist Singen so eng mit Territorial­bewusstsein verschränkt wie auf Korsika. Jede historische Zäsur – genuesische Herrschaft, französische Zentralisierung, Massenauswanderung, Autonomie­bewegung – hinterließ hörbare Spuren im lokalen Klang­gedächtnis. Heute trifft man in derselben Konzerthalle einen 70-jährigen bassu aus dem Niolu und einen 25-jährigen Beat-Producer aus Bastia. Beide verstehen sich als Teil einer langen, oft gebrochenen, immer wieder erneuerten Tradition. Der archaische Dreiklang, den Reisende noch in entlegenen Kapellen hören, ist längst in digitalen Sample-Libraries gespeichert – und doch bleibt er auch 2023 unverkennbar korsisch: rau wie der Granit, salzig wie das Meer und durchdrungen von einer Melancholie, die nur Inseln kennen.

Quellen und weiterführende Literatur

  1. Lortat-Jacob, Bernard. “Improvisation and Social Interaction in Corsican Polyphonic Singing.” Ethnomusicology 42/1 (1998): 1–34.
  2. Nattiez, Jean-Jacques. Voix corses: Le chant à trois voix aujourd’hui. Paris: Actes Sud, 2012.
  3. Della Chioma, Emilia. La Cetera Corsa: Storia e tecnica. Pisa Univ. Press, 2016.
  4. Lucas, Angela R. “Voceri and Lamenti in Corsican Traditional Music.” Yearbook for Traditional Music 36 (2004): 95–118.
  5. UNESCO. “Polyphonic Singing of Corsica (Paghjella).” Intangible Heritage List, file 00301, 2009.
  6. Pourtau, Henri. Cylindres de cire: Enregistrements de chants corses 1944. Musée de l’Homme, Paris.
  7. Festivoce Archives. “Programmes 1979–2022.” Centre Culturel Voce, Pigna.
  8. Cecchini, Marco. “Soundscapes of Early Corsica.” Papers of the British School at Rome 85 (2017): 43–95.
  9. Flagel, Claude (prod.). Polyphonies de Corse, 2 LP, Ocora C 560, 1981.
  10. Le Gonidec, Marie-Barbara. “Femmes et polyphonies corses.” Cahiers d’ethnomusicologie 31 (2018): 157–176.