8. August 2025
8. August 2025
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Porto-Vecchio – vom prähistorischen Castellu zur „salzigen“ Boom-ropole des korsischen Südens

  1. Ein landschaftliches Paradox
    Wer heute über den Place de la République flaniert, hat zur einen Seite Palmen, Boutiquen und Yachthafen, zur anderen die wuchtigen Bastionen der genuesischen Zitadelle. Dass Porto-Vecchio („Portivechju“) jahrhundertelang eher ein ungesundes Randgebiet als ein Jet-Set-Spot war, verraten die quietschenden Möwen kaum: Die weiten Lagunen ringsum lieferten Salz – zugleich Brutraum der Anopheles-Mücke, die Malaria bis 1950 zur größten Fessel der Stadt machte. Porto-Vecchios Geschichte ist daher die eines ständigen Ringens zwischen Reichtum und Krankheit, Boom und Aufgabe.

  2. Steinzeitliche und bronzezeitliche Vorläufer
    Auf dem Granitrücken von Araghju, acht Kilometer nordwestlich, thront ein beeindruckendes Cyclopeenmauer-Castellu (ca. 1 650 – 1 200 v. Chr.). Grabungen des CNRS zeigen Schmelzreste von Kupfer sowie Speichergruben für Emmer – Hinweise auf ein frühes Handelsnetz zu Sardinien und zum Tyrrhenischen Festland [1]. Zwei weitere Torre-Festungen, Ceccia und Tappa, sichern das Hinterland und belegen, dass das Golfbecken schon vor 3 000 Jahren als Ressource wahrgenommen wurde: Süßwasserzuflüsse, Fischreichtum, Salzschlick.

  3. Antike Zwischenstation
    Der Geograph Ptolemaios nennt an Korsikas Ostküste ein „Portus Syracusanus“. Zwar ist der exakte Ort umstritten, doch Scherben campanischer Keramik und römischer Amphoren an der Punta di San Ciprianu verweisen auf eine Zwischenstation für Weizen, Salzfisch und Farbstoffe (Purpur) Richtung Gallien [2]. Nach dem Untergang Westroms verlandet der Hafen; byzantinische oder langobardische Spuren bleiben spärlich.

  4. Genoa greift ein: Drei Kolonisationsversuche (1539 – 1584)
    Nach der Niederlage Pisas bei Meloria (1284) übernahm Genua Korsikas Küsten. Weil in Porto-Vecchio große Salzgärten lockten, erließ der Senat 1539 ein Kolonisierungsedikt: 100 ligurische Familien sollten eine Festungsstadt auf dem Felsvorsprung „Punta di lo Maio“ gründen. Doch Malaria wütete; die Siedler gaben entmutigt auf. 1546 ein zweiter Anlauf, diesmal mit einer provisorischen Holzpalisade. Wieder folgte Evakuierung. Erst der dritte Versuch (1584–85) gelang: Ingenieur Giorgio Canton baute eine fünfeckige Bastion, das spätere „Bastion de France“, schloss die Zitadelle mit zwei Stadttoren („Porta a Marina“, „Porta Vecchia“) und leitete Frischwasser aus der Ospedale-Hochebene durch eine gemauerte Citerne. Dennoch blieb die Einwohnerzahl bis ins 17. Jh. bei unter 200 Seelen, die während der Sommermonate oft in die Berge flohen [3].

  5. „Sel des Herrn“ – Salz und Schiffbau als Doppeltriebfeder
    Genua vergab Konzessionen an Salzkooperativen („compagnie del sale“): Jährlich bis zu 1 200 Tonnen gingen nach Livorno, Pisa, Rom. Parallel entwickelte sich oberhalb (950 m) der Ospedale-Wald zum Lieferanten für Schiffbau-Kiefer. Flöße transportierten Holz über den Torrente Stabiacciu zur Küste. Das machte Porto-Vecchio strategisch – aber auch zum Objekt korsischer Unabhängigkeitskämpfer: 1553 besetzten franco-osmanische Truppen unter Admiral Dragut die Salinen; von hier brach Sampiero Corso zu seinen Guerilla-Feldzügen auf.

  6. Von Genua an Frankreich: 1769 – doch Malaria bleibt
    Mit dem Versailler Vertrag 1768/69 fiel Korsika an Frankreich. Die Bourbonen belassen Porto-Vecchio als Garnisonsort, richten aber ein Quarantänelazarett („lazaretto“) ein, weil jede Sommer­offensive der Mücken Garnisonen dezimierte. Ein Reisebericht von Thomas Forester (1840) spricht von „the ghastly silence of a town locked indoors by fever after dusk“. 1815 zählte man kaum 600 Einwohner, weniger als mittelalterlich Bastia [4].

  7. Entwässerung, Chinin, DDT: Der lange Kampf gegen das Sumpffieber
    Erste Dämme, um Lagunenzungen vom Meer zu trennen, errichtete das Militär 1835 – ohne nachhaltigen Effekt. Ein zweiter, größerer Entwässerungsplan kam 1880, scheiterte aber an Geld. Die Wende brachte die Résistance-Zeit: 1943 legte die Fliegerabwehr der Wehrmacht Feldbahnen durch die Sümpfe; nach der Befreiung nutzten französische Ingenieure die Schienen, um Schöpfwerke zu installieren. 1948 – 52 verteilte das „Service Général d’Hygiène“ 12 000 kg DDT, dazu prophylaktisch Chininpäckchen. 1953 erklärte das Gesundheitsministerium Porto-Vecchio offiziell malariafrei [5].

  8. Nachkriegsboom: Salz verliert, Tourismus gewinnt
    Die Salinen liefen weiter bis 2000 (letzte Ernte: 13 000 Tonnen „or blanc“). Doch schon in den 1960ern wendete sich das ökonomische Drehbuch:
    • 1965: Asphaltierung der RN198 nach Bastia;
    • 1967: Eröffnung des Flughafens Figari;
    • 1972: Gründung des Conservatoire du Littoral, das Strände wie Palombaggia und Santa Giulia unter Schutz stellt.

Zwischen 1960 und 1980 stieg die Einwohnerzahl von 3 400 auf 7 900; parallel wuchs das Bettenangebot von null auf 6 500. Viele Ex-Salzarbeiter sattelten auf Bau oder Gastronomie um. Die historischen Magazzini an der „quai d’Honneur“ wandelten sich zu Bars und Bootsausrüstern.

  1. Archäologische Wiederentdeckung und Kulturerbe
    Seit den 1980ern rücken Wissenschaftler die Torre-Kultur ins Rampenlicht: Das Castellu d’Araghju wurde 1991–95 freigelegt, Tappa 2006 unter Glasstege gestellt. 2016 erklärte die Région Corse den gesamten Bewaldungsring „Forêt de l’Ospedale“ inklusive prähistorischer Siedlungen zum „Espace Naturel Sensible“. In der Zitadelle zeigt das „Bastion de France – Espace Patrimoine“ heute VR-Rekonstruktionen aller drei gescheiterten Genueser Stadtgründungen.

  2. Porto-Vecchio heute: Stadt der drei Ebenen
    • Haute-Ville – die genuesische Oberstadt mit kühlen Granitgassen.
    • La Marine – Yachthafen und Ausfalltor zu den Lavezzi-Inseln.
    • L’Altu-Ornu – neue Vorstadtzone an der RN198, wo Supermärkte und Schulcampus wachsen.

Mit über 12 000 ständigen Einwohnern (INSEE 2023) und bis zu 50 000 Saisonbewohnern ist Porto-Vecchio nach Bastia und Ajaccio die drittgrößte Stadt Korsikas. 2022 machten Touristen 1,3 Mio. Übernachtungen; 68 % davon in Ferienvillen. Gleichzeitig wird das historische Klimaerbe vermarktet: Der „Sentier du Sel“ führt Besucher durch stillgelegte Becken, Flamingos grasen zwischen rosafarbenen Kristallen; Infotafeln erzählen von Malaria-Opfern neben Erfolgen der Entwässerung.

  1. Herausforderungen: Uberisierung, Grundwasser, Identität
    • Immobilienpreise sind seit 2010 um 87 % gestiegen; junge Einheimische weichen in Bergdörfer aus.
    • Der rapide Bau von Pools belastet das Grundwasserplateau von Ospedale; eine neue Entsalzungsanlage soll 2026 Wasser liefern.
    • Kulturpolitisch ringt Porto-Vecchio um Balance: Musik-Festival „Porto-Latino“ belebt die Bastion, während Denkmalschützer vor zu lauten Strandclubs warnen.

  2. Fazit – ein Palimpsest aus Salz und Stein
    Porto-Vecchio zeigt, wie stark eine Landschaft Geschichte schreiben kann. Salzsümpfe lockten Eroberer, verscheuchten Siedler, finanzierten Bastionen und starben erst, als Flugzeuge Badegäste brachten. Die Stadt ist ein Lehrstück mediterraner Resilienz: Drei gescheiterte Gründungen, zwei Jahrhunderte Krankheit, dann ein radikaler Aufstieg. Wer heute bei Sonnenuntergang von der Bastion über den rosé schimmernden alten Salzgarten blickt, sieht nicht nur eine Postkarten-Szenerie, sondern die Sedimente von 4 000 Jahren, die im Wind der Bucht weiter erzählt werden.

Quellen (Auswahl)
[1] Patrice Arca / CNRS: Le Castellu d’Araghju – Forteresse torréenne et contrôle territorial, Paris 2020.
[2] Maria-Grazia Melis: Trade Routes in the Tyrrhenian Sea during the Roman Republic, Journal of Mediterranean Archaeology 33/1 (2021), S. 55–77.
[3] Antoine-Marie Graziani: La Corse génoise – Administration et société (1284-1768), Tallandier, Paris 2015, Kap. 12 („Porto-Vecchio et le sel“).
[4] Thomas Forester: Riviera and Corsica Diary, London 1843, S. 218–227.
[5] Ministère de la Santé: Campagne antipaludique de Corse 1948-1953, Archives nationales, Serie SAN/5/1127.