7. August 2025
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Sartène – „la plus corse des villes corses“

Sartène, wie der Schriftsteller Prosper Mérimée sie 1840 taufte – thront hoch über dem Rizzanese-Tal an der Südwestküste der Insel. Ihre labyrinthartigen Granitgassen, die wuchtigen Adelspaläste und der Blick hinunter zur Bucht von Propriano erzählen eine Geschichte, die fast das ganze Spektrum korsischer Vergangenheit abbildet: von prähistorischen Kultplätzen über genuesische Herrschaft, Freiheitskriege und Vendetten bis zum modernen Wein- und Kulturtourismus. Der folgende Deep-Dive zeichnet die wichtigsten Etappen dieser 3 000-jährigen Chronik nach.

  • Götter aus Granit – die prähistorischen Ursprünge
    Mehr als 25 Jahrhunderte vor Entstehung der Stadt lag südlich des heutigen Ortskerns bereits eines der größten megalithischen Zentren West­europas: das Hochplateau von Cauria. Die Stätten I Stantari, Rinaghju und der Dolmen von Funtanaccia – zu denen heute ein holpriger Weg durch Macchia und Korkeichen führt – stammen aus der mittleren Bronzezeit (ca. 1 400–900 v. Chr.). Phallische Menhire mit eingemeißelten Schwertern und helmartigen Köpfen belegen eine kriegerisch-hierarchische Gesellschaft, die möglicherweise enge Kontakte zu sardischen Nuraghern und mykenischen Händlern pflegte [1]. Der Kult der Ahnengötter, die aus Granit gemeißelt das Land bewachen, hat im kollektiven Gedächtnis der Region tiefe Spuren hinterlassen; noch heute findet man kleinere Menhire als Spolien in Hofmauern und Weinbergen rund um Sartène.

  • Zwischen Römern, Byzantinern und ersten Pisanern
    Im 2. Jh. v. Chr. gliederten die Römer Korsika in ihre Provinz Sardinia et Corsica ein und legten nahe Sartène einen Straßenkorridor an, der die Häfen Marianum (Propriano) und Bunifaziu (Bonifacio) verband. Keramikfunde aus der Villa romana von Bassetta belegen Wein- und Ölhandel bis nach Massilia [2]. Mit dem Niedergang Roms geriet die Region unter byzantinischen Einfluss; spätestens ab dem 9. Jh. zogen jedoch sarazenische Überfälle eine drastische Entvölkerung nach sich. Erst ab 1077, nach der päpstlichen Schenkung Korsikas an Pisa, entstand am heutigen Felsplateau eine befestigte Siedlung namens „Sarthenum“, vermutlich aus dem ligurischen Wort „sar-tégna“ („Steinscherbe“) abgeleitet. Der Standort – 330 m hoch, schwer zugänglich und mit Süßwasserquellen – bot natürlichen Schutz gegen Piraten.

  • La Cita di u Dolu – Genuesische Bastion und Bühne der Vendetta
    Mit dem Sturz Pisas 1284 wechselte Korsika unter genuesische Oberhoheit. Die Banco di San Giorgio ließ in Sartène eine rechteckige Zitadelle errichten; Reste ihrer Mauern rahmen noch heute die Place de la Libération. Die Kolonial­macht teilte die Insel in sogenannte „pievi“ – kleine Bezirke mit eigenem Podestà –, erhob Salz- und Kastaniensteuern und setzte lokale „caporali“ als Mittelsmänner ein. In den abgelegenen Tälern um Sartène entglitt Genua jedoch bald die Kontrolle: Rivalisierende Clans (Carabelli, Culioli, Bartoli u. a.) lieferten sich über Generationen blutige Fehden, die sich zu einer institutionalisierten Vendetta auswuchsen. Chronisten wie Anton Pietro Filippini berichten, dass zwischen 1583 und 1586 mehr als 500 Menschen im Pieve de la Rocca – dem Gebiet um Sartène – getötet wurden, was enorme Bevölkerungsverluste verursachte [3].

  • „Libertà“ – Aufstände gegen Genua und der Weg in die französische Ära
    Als 1729 die korsische Inselrevolte ausbrach, schloss sich Sartène den Aufständischen unter Luiggi Giafferi und Giacinto Paoli an. 1735 entsandte Genua deutsche Söldner, die die Stadt zurückeroberten; noch im selben Jahr brannte ein Teil der Unterstadt nieder. Pascal Paoli, später „Vater der Nation“, versuchte 1768 vergeblich, Sartène für die neugegründete Republik Corsica zu gewinnen. Ein Jahr später verkaufte Genua seine Souveränitätsrechte an Frankreich; nach der Niederlage der Korsen bei Ponte-Novu (1769) fiel die Stadt ohne größere Gegenwehr an die Bourbonen. Französische Ingenieure wiesen neue Straßentrassen aus (u. a. die spätere N 196 nach Ajaccio) und gründeten 1783 das erste zivile Hospital. Trotzdem blieb Sartène ein Hotspot der Banditen: Zwischen 1815 und 1850 standen im Kanton laut Präfekturbericht jährlich bis zu 40 % der erwachsenen Männer unter Haftbefehl [4].

  • „La plus Corse des villes“ – 19. Jahrhundert zwischen Reisefieber und Revolverromantik
    Mit der Romantik entdeckten Festlandtouristen die „wilde Schönheit“ des Südens. Prosper Mérimée notierte 1840: „In Sartène scheint die Zeit seit dem Mittelalter stillzustehen; jeder Stein trägt Wunden einer Fehde.“ Die Stadt reagierte mit Stadterweiterungen: 1845 entstand der neoklassizistische Palazzo Renucci, 1877 das Theater Allaghjolu. Gleichwohl blieb die Blutfehde Teil des Alltags. 1892 gipfelte die „Vendetta Capanacce“ darin, dass zwei Familien über 20 Jahre hinweg abwechselnd Attentate verübten; am Ende zählte man 24 Tote und dutzende Verbannte. Erst ein groß angelegter Polizeieinsatz der Dritte Französischen Republik (1894 / 95) und die Einbindung junger Männer in die Kolonialarmee (Madagaskar, Marokko) brachen den Kreis der Gewalt [5].

  • Vom Weltkrieg in die Gegenwart – Transformation einer Bergstadt
    Im Ersten Weltkrieg stellte Sartène über 600 Soldaten; 128 kehrten nicht zurück, ihr Denkmal flankiert heute die Hauptkirche Santa Maria. Während der italienischen Besatzung 1942–43 agierte in den umliegenden Wäldern die Maquis-Gruppe „Battaglione di Cagna“. Kurz vor der Befreiung Korsikas (September 1943) sprengten deutsche Pioniere die Brücke von Spina Cavallu, um den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten – noch heute zeugen Betonreste im Flussbett vom Aktionsradius der Résistance [6].

  • Nach dem Krieg verlagerte sich das wirtschaftliche Schwergewicht an die Küste: Der Hafen von Propriano erlebte einen Boom, und Sartène verlor zwischen 1950 und 1980 fast ein Drittel seiner Einwohner. Erst der Aufstieg des Kulturtourismus, die Anerkennung der Appellation „Vin de Sartène“ (1976) und die Eröffnung der Straße T 40 nach Bonifacio brachten neue Impulse. Seit den 1990er-Jahren restauriert die Kommune Privathäuser mit Zuschüssen aus dem „Plan Architecture et Patrimoine“, was den historischen Kern in eine lebendige Flaniermeile mit Ateliers, Bars und Concept Stores verwandelt hat.

  • Rituale, die die Zeit überdauern – das Erbe von Sartène
    Trotz Modernisierung bewahrt die Stadt einige der ältesten Riten Korsikas. Der bekannteste ist das „Catenacciu“ in der Karfreitagsnacht: Ein barfüßiger Büßer – anonym und in rote Kutte gehüllt – schleppt eine 17 kg schwere Eisenkette durch die nächtlichen Gassen, begleitet von Hunderten Fackelträgern. Forschungen der Ethnologin Angèle Paoli sehen darin eine christliche Überprägung megalithischer Frühjahrsrituale [7]. Auch die Polyphonie-Chöre (paghjelle) und das Traubensegen-Fest „San Martinu“ (11. November) gehören zu den immateriellen UNESCO-Kulturfenstern Korsikas.

  • Vergangenheit als Rohstoff der Zukunft
    Die Geschichte von Sartène gleicht einem Kondensat der korsischen Seele: rau, widersprüchlich, doch unverwechselbar. Ihre Megalithfelder verweisen auf uralte Vernetzungen im Mittelmeerraum; genuesische Bastionen und französische Regimenter hinterließen Mauern, Plätze, Gesetze – aber auch Narben der Gewalt. Heute wandeln Besucher auf denselben Granitplatten wie einst Vendetta-Schützen und halbnackte Männerhirten, genießen dazu DOC-Weine aus Sciaccarellu-Trauben und lauschen archaischen Gesängen, die selbst Paoli und Mérimée gekannt hätten. Sartène zeigt, dass sich Identität nicht aus dem Löschen der Vergangenheit speist, sondern aus ihrem bewussten Erzählen – Stein für Stein, Geschichte für Geschichte.

 

Quellen (Auswahl)
[1] Jean-Michel de Lanfranchi / Jean Guilaine: Les Statues-menhirs de Cauria, CNRS Éditions, Paris 2020.
[2] Catherine Rigeade: La villa romaine de Bassetta (Corse-du-Sud), in: Gallia, 72/2 (2015), S. 37–59.
[3] Anton Pietro Filippini: La Chronique de la Corse (1594). Neuherausg. von Noël Guidicelli, Albiana, Ajaccio 2012.
[4] Préfecture de Corse: Rapports sur la Criminalité dans les Cantons de l’Arrondissement de Sartène, Archives Départementales de la Corse-du-Sud, Serie 4 M 37, 1815–1850.
[5] Dorothy Carrington: Granite Island – A Portrait of Corsica, Hamish Hamilton, London 1971, Kap. 10 („Vendetta in Sartène“).
[6] Michel Vergé-Franceschi: Histoire de la Corse, Tallandier, Paris 2018, S. 544–561.
[7] Angèle Paoli: Le Catenacciu de Sartène: origines et métamorphoses d’un rite pascal, Revue d’ethnologie méditerranéenne, 25 (2013).