Wer Korsika hört, denkt an zerklüftete Küsten, Macchia-Duft und vielleicht an Napoleon. Für viele Einheimische liegt der wahre Stolz jedoch auf dem Teller – genauer gesagt in den Rauchkammern, Trockenböden und Natursteinkellern, in denen Figatellu, Prisuttu, Coppa und Lonzu reifen. Diese Charcuterie ist mehr als bloßes Fleisch: Sie ist ein verdichteter Ausdruck der Inselökologie, ihrer Geschichte zwischen römischer Salzroute und genuesischer Kastanienpolitik, ihrer Sozialrituale und nicht zuletzt ihrer ökonomischen Debatten um Herkunftsschutz und Lebensmittelsicherheit. Wer verstehen will, warum Korsen ihre Wurst fast ehrfürchtig genießen, muss tief in einen Stoff eintauchen, der so komplex ist wie die Insel selbst.
Landschaft als Speisekammer – das Terroir der Charcuterie
Korsische Schweinehaltung ist extensiv. Die schwarzen bis rotbraunen Porcu-nustrale-Tiere (siehe unten) ziehen von Oktober bis Januar halbwild durch Kastanien- und Eichenwälder. Sie fressen Kastanien (Castagna), Eicheln (Ghiande) sowie Wurzeln, Kleinsamen und die ätherisch duftende Strauchheide der Macchia (myrte, ciste, lentisque). Der hohe Anteil ungesättigter Fettsäuren sowie sekundärer Pflanzenstoffe (Terpene) gelangt in das intramuskuläre Fett und prägt das Aroma späterer Schinken oder Wurst. Schlacht- und Reifemonate fallen zudem in die kühleren, feuchten Winter, in denen natürliche Schimmelkulturen der Keller reaktionsfreudig, aber nicht aggressiv sind – ein Traditionswissen, das Landwirtschaft und Klimatakte miteinander verknüpft.
Vom Wildschwein zum Porcu Nustrale – die Tierbasis
Genetische Analysen des INRAE (2020) zeigen, dass das einheimische Schwein zwar Spuren des europäischen Wildschweins Sus scrofa scrofa trägt, aber seit dem Mittelalter mit toskanischen Cinta-Senese- und später iberischen Negro-Lampino-Linien eingekreuzt wurde. 2006 legte die Association Nationale Porcu Nustrale ein Herdbuch an; 2023 umfasste es rund 6 000 Zuchtsauen bei 430 Herden. Die Tiere weisen eine langsame Wachstumskurve (Schlachtalter ≥18 Monate) und einen hohen Infiltrationsgrad auf – beides Grundbedingungen für langes Reifen ohne Oxidationsgefahr.
Historische Archäologie – von Römerpökeln bis Genoeser Kastanienpolitik
Salzkonserviertes Schweinefleisch ist in Korsika mindestens seit der Römerzeit belegt: Amphorenfragmente mit Nitritresten aus Aléria (2. Jh. v. Chr.) deuten auf exportierte „perna corsicana“. Doch die eigentliche Konsolidierung kam unter genuesischer Herrschaft (1284–1768). Um Kastanienmehl als „Brot des armen Mannes“ zu fördern, ließ die Banco di San Giorgio weite Bergregionen aufforsten. Kastanienüberschüsse wurden ab dem 15. Jh. gezielt als Schweinefutter eingesetzt – ein doppelt günstiges Modell, weil Milchwirtschaft in den steilen Tälern kaum Boden fand. Seefahrerbrachen um Ajaccio und Bonifacio lieferten Meer-Salz für die Pökelung. Im 18. Jh. notierte der Reiseschriftsteller James Boswell, dass „corsican bacon and sausages equal the fame of Parma“.
Saisonkalender – „A Mazzera“ und die Wintermonate
Das Schlachtfest („a mazza“) beginnt meist am Andreastag (30. November) und endet vor dem Beginn der „cara quaresima“ (Fastenzeit). Familien und Nachbarn teilen Arbeitsschritte:
• Tag 1 Tötung, Brühen, Abhängen.
• Tag 2 Zerwirken; Rohteile für Prisuttu (Keule), Coppa (Nacken), Lonzu (Lende) salzen.
• Tag 3 Herstellung von Figatellu (Leber-Wurst), Salciccia (grobe Stange) und eventuell Budellu (Blutwurst).
Die Kolbenmeiler im Garten liefern Kastanienrauch (Phenole gegen Mikroben). Danach hängen die Stücke über offenen Balken oder in Trockenräumen, deren Naturstein bei Westwind 80–85 % Luftfeuchte hält – ein entscheidender Parameter, damit kein „caseum“ (gelbe Fettschicht) entsteht.
Sortenporträt – Prisuttu, Coppa, Lonzu
Prisuttu (kors. für Schinken) ist das Prestigeprodukt. Nach 3–4 Wochen Salzung reift er 12–24 Monate. Rundschimmelkolonien (Penicillium nalgiovense) bilden eine weiß-graue Blüte, die Feuchtigkeit ausgleicht und Edelaromen von Haselnuss, Trockenfrucht und sogar leichtem Blauschimmelkäse liefert. Coppa, der um die Wirbelsäule verlaufende Nackenmuskel, reift 5–8 Monate; durch eine Kräuterkruste aus myrte, laurier und poivre sauvage bekommt er balsamische Noten. Lonzu hingegen wird aus Rückenlende gefertigt, mit Pfeffer und maquis-Kräutern eingerieben und maximal 6 Monate getrocknet; seine mager-fettige Maserung erinnert an Lomo ibérico, ist jedoch weniger süß.
Die Wurstfamilie – Figatellu, Salciccia & Co.
Figatellu (Plural Figatelli) gilt als „Winterleberwurst“. Sie enthält etwa 30 % Schweineleber, 60 % grob gewolftes Hals- und Bauchfleisch sowie Gewürze (Knoblauch, Wein, manchmal Fenchelsamen). Reifezeit nur 2–4 Wochen; da das Produkt halbroh verzehrt wird, kommt es traditionell zwischen Dezember und März in den Handel und wird gegrillt oder als Suppeneinlage verwendet. Die grobe Salami-Variante Salciccia wird 8–12 Wochen getrocknet und kommt ganzjährig auf den Markt. Panzetta (Bauch) und Bulagna (Backe) sind eher Kochspeck, dienen aber auch als Fettlieferant für Eintöpfe wie „Minestra di Corsica“. Manche Täler fertigen zudem Boudin noir (sanguinacciu) mit Kastanien- oder Zwiebelfüllung; andere kreieren „salamu di cervu“ (Hirsch), wenn es der Jagderfolg erlaubt.
Mikrobiologie & Reifung – natürliche Keller als Bioreaktor
INRAE-Studien weisen in korsischer Charcuterie dominante Stämme von Lactobacillus sakei, Staphylococcus xylosus und Debaryomyces hansenii nach. Diese Starter treten autochthon auf – im Gegensatz zu kontinentaleuropäischen Betrieben, die labormäßig inokulieren müssen. Die Kombination aus hohem pH-Wert des Fleischs (durch Kastanienfette) und mäßiger Salzung (2,8–3,2 %) führt zu langsamem Abfall aw-Wert. Ergebnis: komplexe Ester- und Aldehydprofile, die sensorisch zwischen iberischem Bellota und alpinem Bündnerfleisch liegen, aber eine zartere, süßere Spitze besitzen.
Rechtlicher Rahmen – IGP, CTPC & Hygienedebatten
Seit 2012 schützen drei Europäische IGP:
• Jambon sec de Corse – Prisuttu
• Coppa de Corse – Coppa di Corsica
• Lonzu de Corse – Lonzu di Corsica
Rund 180 Betriebe sind zertifiziert; sie unterstehen dem „Consortium de Tutela des Produits de Charcuterie de Corse“ (CTPC) plus INAO-Kontrollen. Kernkriterien: Porcu-nustrale-Genetik (≥66 %), Freilauf ≥3 ha/10 Tiere, Kastanien- oder Eichelfutter wenigstens 45 Tage vor Schlachtung, Salz ausschließlich trocken, keinerlei Nitritpökelsalz. Genau hier kollidieren Tradition und EU-Hygiene: Nach Trichinellosefällen 2015/2017 forderten Behörden systematische Erhitzung oder Schnellgefrierung. Produzenten kontern mit dichten Veterinärkontrollen und argumentieren, Nitritfreiheit sei sensorisch und gesundheitlich Teil des USP.
Wirtschaft & Markt – zwischen Hofverkauf und Supermarktexport
Laut Chambre d’Agriculture de Corse (2022) lag die registrierte Charcuterie-Produktion bei 900 t; davon entfallen 38 % auf Prisuttu, 26 % Coppa, 17 % Salciccia/Figatellu, Rest Lonzu und Nebensorten. Etwa 55 % werden ab Hof oder auf Märkten wie Ajaccio-Place Foch verkauft, 30 % über Großhandel nach Festlandfrankreich exportiert, 15 % gehen in Feinkostketten oder Online-Versand. Das Kilo Prisuttu AOP kostet im Fachhandel 49–65 €, doppelt so viel wie durchschnittlicher Serrano, was Tourismus und Premiumgastronomie antreibt. Gleichzeitig zirkulieren Billigkopien („Prisuttu façon Corse“) aus bretonischer Mastware – ein Dauerthema der Korrespondenten bei Verbraucherschutzorganisationen.
Kulinarische Einbindung – Wein, Käse, Kastanienbier
Die klassischen Begleiter sind leichte, pfeffrige Rotweine aus Sciaccarellu-Trauben (AOP Ajaccio, Sartène) oder mineralische Rosés von Niellucciu (Patrimonio). Figatellu vom Grill harmoniert mit dicker Polenta aus Kastanienmehl (Pulenta) oder mit Brocciu, einem Schaf-/Ziegenmolkenkäse. Neuzeitliche Brauereien wie „Pietra“ verarbeiten Kastanienmalz in Bier, dessen feinherbe Süße die Salzigkeit von Coppa abrundet. Moderne Köche legen dünne Lonzu-Scheiben um Seeteufelfilets oder schmelzen Panzetta in Maronenvelouté – Beispiele einer „cuisine identitaire créative“.
Krisen & Zukunft – Kastanienkrankheiten, Klimawandel, Genpool
Drei Faktoren stellen die Tradition in Frage:
a) „Chancre de l’encre“ (Phytophthora cinnamomi) rottet Kastanienhaine aus; Forschungsteams der Universität Pasquale Paoli testen resistente Unterlagen.
b) Längere Trockenperioden reduzieren Mastendgewicht; einige Züchter füttern Bio-Gerste zu, was Puristen als Geschmacksverwässerung kritisieren.
c) Geringe genetische Varianz des Porcu Nustrale – INRAE arbeitet an Kryo-Spermabanken.
Gleichzeitig eröffnen neue Chancen: Agro-Forst-Label „Haute-Valeur Environnementale“, klimatisierte Reifekeller, Export an Delikatessenplattformen in Skandinavien und Japan. Die nächste Generation digitalisiert Rückverfolgung per QR-Code direkt an der Wurstpelle – Blockchain im Räucherschleier.
Schluss
Korsische Charcuterie ist ein Mikrokosmos, in dem Geografie, Biodiversität, Geschichte und Politik buchstäblich Fleisch werden. Wer an einem Winterabend in einer Dorfküche dem Aromenmix aus Kastanienrauch, Pfeffer und fermentiertem Schweinefett begegnet, riecht zugleich antike Salzlager, genuesische Steuerakten, bäuerliche Solidarrituale und die Kontroverse um EU-Verordnungen. Figatellu & Co. sind damit nicht nur Delikatesse, sondern kulinarisches Archiv einer Insel, die sich stets zwischen Eigenständigkeit und Offenheit bewegt.
Quellen (Auswahl)
[1] Institut National de la Recherche pour l’Agriculture, l’Alimentation et l’Environnement (INRAE): Étude génétique du Porcu Nustrale, Rapport 2020.
[2] Marie-Josée Cesari: Charcuterie Corse – histoire, terroir, savoir-faire, Albiana, Ajaccio 2017.
[3] Jean-Laurent Manon: Les salaisons corses à l’époque génoise, in: Revue d’Histoire Méditerranéenne 45/3 (2019), S. 77–101.
[4] European Commission, eAmbrosia Database: Specifications for Jambon sec de Corse–Prisuttu, Coppa de Corse & Lonzu de Corse, last update 04/2023.
[5] Chambre d’Agriculture de Corse: Filière porcine et charcuterie 2022 – chiffres clés.
[6] Pascal Paoli University, Laboratoire SPE: Impact du changement climatique sur la châtaigneraie corse, Working Paper 2021.
[7] C. Guerrini et al.: Microbial ecology of traditional Corsican dry-cured ham, Food Microbiology 87 (2020), 103388.
[8] A. de La Balze: Rituels de la « mazza » en Corse-du-Sud, Ethnologie Française 51/2 (2021), S. 305–324.