7. August 2025
7. August 2025
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Zonza – Geschichte einer zweigeteilten Gemeinde zwischen Bavella-Felsnadeln und Pinarello-Lagune

  1. Topografische Doppelidentität
    Kaum eine korsische Gemeinde ist so gespalten wie Zonza: Das Bergdorf selbst klammert sich in 750 m Höhe an einen Granitrücken der Alta Rocca, umgeben von Kastanienhainen und den skulpturalen „Aiguilles de Bavella“. Fast 35 Straßenkilometer entfernt – aber verwaltungstechnisch zur selben Commune gehörend – liegen an der Tyrrhenischen Küste die Badeorte Sainte-Lucie-de-Porto-Vecchio und Pinarello mit ihren weißrosa Sandbögen. Genau diese topografische Spannweite spiegelt die Geschichte Zonzas: ein ständiges Pendeln zwischen Binnen- und Meereswelt, Isolation und Öffnung.

  2. Steinzeitliche Keimzelle der Alta Rocca
    Das Hochland um Zonza zählt zu den ältesten Siedlungsräumen Korsikas. Im benachbarten Levie wurden im Casteddu di Cucuruzzu zyklopenmauernde Torre-Anlagen (ca. 1 500–900 v. Chr.) samt Bronzeschlacke entdeckt; in der Bocca di Illarata fand die DRAC Corse 2019 Klingen aus obsidianähnlichem Tachylit, eindeutiger Import aus der Lipari-Inselgruppe. Solche Funde belegen ein Netzwerk, in dem das heutige Zonza Teil einer prähistorischen Transhumanz- und Tauschwirtschaft war: Sommerweiden in den Kastanienwäldern, Winterlager an den Fisch- und Salzgründen der Küste.

  3. Römisch-byzantinische Randlage
    Das römische Straßensystem verlief bevorzugt in den Ebenen von Aléria und Bonifacio; Zonza blieb abseits. Gleichwohl legen Keramikreste „African Red Slip C“ am Col de Bavella nahe, dass Händler ab dem 4. Jh. n. Chr. über den Pass Tarisches Öl gegen korsischen Pechkieferharz tauschten. Nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reichs zogen sich die Berggemeinden noch stärker zurück; byzantinische oder langobardische Artefakte fehlen fast völlig.

  4. Mittelalter: Pieve di Carbini und Fehden
    Erstmals urkundlich fassbar wird Zonza 1181 in einem Inventar des Bistums Aleria als Weiler „Sontia“ der Pieve di Carbini. Diese bergige Pfarrei bildete eine Verteidigungslinie gegen Sarazenen, aber auch Bühne für innerkorsische Fehden: Chroniken des Franziskaners Agostino Gherardini (1480) schildern, wie die Clans Porri und Paoli am Monte Calva um Weiderechte stritten. Solche Mikro-Kriege prägten noch das 17. Jh. – Stichwort „vendetta“ –, hielten jedoch zugleich soziale Netze zusammen: Familienbündnisse regelten Wasserrechte, Pfade und den Transfer von Küstensalz ins Hinterland.

  5. Genoese Ära: Türme, Kastanien, Küstenfurcht
    Nach dem genuesischen Sieg über Pisa (1284) kam die gesamte Region unter ligurische Verwaltung. Die Casa di San Giorgio belieferte ihre Flotten mit kastaniengegerbtem Leder und Schiffsmasten aus Laricio-Kiefer, die oberhalb von Zonza geschlagen wurden. Gleichzeitig entstanden entlang der heutigen Gemeinde­küste Wachtürme: die Tour de Fautea (um 1560) und die Tour de Pinarello (1685). Beide sollten die Dorfbewohner warnen, sobald barbareske Freibeuter in den Golf eindrangen – ein permanenter Stress, der das Binnenland zur bevorzugten Wohnzone machte.

  6. Aufstand und Anschluss an Frankreich
    Im 18. Jh. erreichten die korsischen Unabhängigkeitskämpfe der Brüder Giafferi, später Pasquale Paoli, auch die Alta Rocca. 1769 zogen sich Paolistische Milizen nach ihrer Niederlage bei Pont d’Orezza über den Col de Bavella zurück; in Zonza übernachteten französische Dragoner während der „Pacification de l’Île“. Noch 1795 notiert das Militärarchiv in Vincennes, das Dorf sei „répétitivement rebelle“. Erst nach dem Konkordat von 1801 setzte allmählich eine politische Befriedung ein – verbunden mit der Neuvermessung der Landgüter, aus der 1853 die eigenständige Commune Zonza hervorging.

  7. Holz, Harz und die Straße D268
    Die zweite Hälfte des 19. Jh. brachte einen forstwirtschaftlichen Boom. Die staatliche „Administration des Eaux et Forêts“ pachtete 14 000 ha in der Bavella-Waldkette; Harzhütten (gualchiere) destillierten Kolophonium für Seifen- und Lackfabriken in Marseille. Um das Holz schneller zur Küste zu schaffen, baute das Corps des Ponts et Chaussées 1881–88 die Serpentinenstrasse D268, die noch heute Zonza mit Solenzara verbindet. Sie machte den Bergort zum Zwischenstopp für Händler, Postkutschen und – nach 1912 – erste Automobil-Touristen auf „Route des Aiguilles“.

  8. Krisen des 20. Jahrhunderts
    Die Reblaus (Phylloxera) tötete binnen zehn Jahren 90 % der kleinen Rebgärten; der Kastanienrindenkrebs von 1930 dezimierte den zweiten Pfeiler der Dorfwirtschaft. Viele Familien wanderten nach Marseille oder Toulon ab. Der Zweite Weltkrieg brachte zunächst italienische Besatzung (November 1942–September 1943). In den Kastanienwäldern oberhalb von Zonza formierte sich ein Résistance-Maquis unter François Marinacci, der Sprengungen auf der D-Straße verübte. Als die Alliierten 1943 Korsika befreiten, führte einer der Nachschubkorridore vom Ankerplatz Solenzara über Bavella nach Zonza – eine Aktion, die den Ortsnamen in britischen Einsatzberichten („Zonza Track“) festhielt.

  9. Vom Bergdorf zum Tourismus-Hybrid
    Mit der Gründung des Parc naturel régional de Corse (1972) rückte Zonza ins Blickfeld des naturnahen Tourismus. Der Weitwanderweg GR20 kreuzt seitdem das Gemeindegebiet, die Bavella-Felsorgeln sind Kletter-Hotspot, und an der Küste entwickelten sich Pinarello und Fautea zu Surf- und Segelrevieren. Dadurch wuchs die Einwohnerzahl wieder von 1 240 (1975) auf 2 648 (INSEE 2023), allerdings räumlich verzerrt: Zwei Drittel leben mittlerweile in den flachen Ortsteilen Sainte-Lucie und Pinarello, während das Hochdorf nur noch 380 Dauereinwohner zählt.

  10. Gegenwartsherausforderungen
    • Wasser: Sommerlicher Gästezuwachs belastet die Cavu- und Osu-Einzugsgebiete; 2022 musste die Gemeinde erstmals abendliche Pool-Füllverbote erlassen.
    • Feuer: Megabrände 2003 und 2009 fraßen zusammen 3 700 ha Macchia; präventive Schäferei-Projekte („Pastoralisme raisonné“) sollen jetzt Brandschneisen freihalten.
    • Doppelverwaltung: Die räumliche Trennung von Berg- und Küstenkern erschwert Infrastrukturplanung – eine Schule hier, ein Klärwerk dort. Bürgermeisterin Nicole Emmanuelli startete 2021 digitale Bürgerversammlungen, um beide Teilräume an einen Tisch zu holen.

  11. Fazit – ein Mikrokosmos korsischer Vielfalt
    Zonza erzählt fast alle Kapitel der Inselgeschichte in verdichteter Form. Prähistorische Wehrtürme, genuesische Küstentürme, französische Forsthütten, Résistance-Pfade und heutige Wandertrails liegen in einer einzigen, aber räumlich verstreuten Gemeinde. Wer morgens den Duft von Immortelle an der Tour de Fautea einatmet und nachmittags in der Bergkneipe „Auberge du Sanglier“ Kastanienbier trinkt, vollzieht die uralte Pendelbewegung der Zonzinchi nach: vom Meer zum Granit und zurück. Vergangenheit und Gegenwart sind hier nicht nebeneinander, sondern übereinander geschichtet – wie die Gesteinslagen der Bavella-Aiguilles, die das ganze Panorama überragen.

Quellen (Auswahl)
[1] Parc naturel régional de Corse (PNRC): Document d’objectifs – Massif de Bavella et Commune de Zonza, Ajaccio 2021.
[2] Jean-Pierre Grolleau & Antoine-Marie Graziani: Alta Rocca, Histoire et Identités, Éditions Albiana, Bastia 2018.
[3] Base Mérimée, Ministère de la Culture: Fiche PA00099247 – Tour génoise de Fautea, mise à jour 2023.
[4] INSEE: Dossier complet – Commune de Zonza (2A362), édition 2023.
[5] Pascal Paoli University / CNRS: Site archéologique de Cucuruzzu-Capula – Rapport final de fouilles 2018.
[6] Jean-Marie Arrighi: La Corse dans la Seconde Guerre mondiale, Albiana, Ajaccio 2020, chap. 11 (Alta Rocca).
[7] DRAC Corse: Inventaire des sites protohistoriques de l’Alta Rocca, dossier scientifique, Corte 2019.
[8] Michel Vergé-Franceschi: La Corse et la mer – Mille ans de relations, Fayard, Paris 2016, chap. 6 (Tours littorales génoises).